Tali Sharot erklärt die Theory of Mind

Das menschliche Gehirn ist so eingerichtet, das es automatisch von anderen Menschen lernt. Tali Sharon erklärt: „Vom Tag unserer Geburt sind wir damit beschäftigt nachzuahmen, wir bewerten automatisch permanent die Ergebnisse fremder Entscheidungen, unsere Erinnerungen verändern sich so, dass sie sich denen anderer anpassen, und unsere Neuronen reagieren auf Fehlschläge und Erfolge aller Menschen um uns herum. Es gibt noch ein weiteres trickreiches System, dessen sich unser Gehirn dafür bedient – die Theory of Mind oder Naive Theorie.“ Das Prinzip der Theory of Mind ist die Fähigkeit des Menschen, darüber nachzudenken, was andere Menschen denken. Tali Sharot wurde an der New York University in Psychologie und Neurowissenschaften promoviert und ist Professorin am Institut für experimentelle Psychologie der University of London.

Weiterlesen

Deutschlands Geschichte ist gleichermaßen bereichernd wie verwirrend

In seinem Buch „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ nimmt Neil McGregor begleitet Neil MacGregor seine Leser durch die Geschichte. Unterwegs lernen sie Objekte aus rund 500 Jahren kennen, die von den sehr unterschiedlichen Erinnerungen Deutschlands erzählen. Zu den Objekten Neil MacGregors zählen unter anderem die Gutenberg-Bibel, Grimms Märchen, das Bauhaus-Design, Albrecht Dürers Rhinozeros, der VW-Käfer, die Krone Karls des Großen und die Kuppel des Reichstags. Dabei betont der Autor, dass Deutschlands Denkmale anders seien als die anderer Länder. Neil MacGregor erklärt: „Wenn deutsche Monument sich von denen anderer Länder unterscheiden, dann tun sie dies, weil auch die deutsche Geschichte eine andere ist.“ Neil MacGregor ist seit Oktober 2015 Gründungsintendant des Humboldt-Forums. Er war von 2002 bis 2015 Direktor des Britischen Museums und zuvor von 1987 bis 2002 Direktor der National Gallery in London.

Weiterlesen

Jede Erinnerung ist mit Emotionen verknüpft

Jede bewusste Erinnerung ist mit Emotionen verbunden. Ist ein Mensch traurig, hat er unangenehme Erinnerungen, ist er glücklich, angenehme. Christian Schüle erläutert: „Empfindungen von Trauer oder Freude sind emotionale Wertungen. Je stärker die Emotion bei einem Ereignis im Spiel ist, desto deutlicher und besser ist die Erinnerung an dasselbe.“ Im menschlichen Gehirn gibt es einen autonomen Bereich, in dem explizite Erinnerungen an emotionale Erlebnisse verknüpft werden und auf implizite emotionale Erinnerungen treffen. Es handelt sich dabei um das Arbeitsgedächtnis mit dem von ihm erzeugten unmittelbaren bewussten Erlebnis. Wenn Erinnern Wiedererleben und Wiedererleben nichts anders als neuronales Wiederkennen ist, dann ist Erinnerung auch Erkenntnis. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Weiterlesen

Verliebtsein ähnelt einem Drogentrip

Die meisten Menschen haben das in ihrem Leben schon einmal, oder auch öfters, erlebt: Der Herzschlag ist ständig leicht erhöht. Man fühlt sich leicht fiebrig und braucht wenig Schlaf. Die Welt wirkt über alle Maßen plastisch und greifbar. Man ist leicht konfus, aber auch wieder sehr konzentriert. Matthias Horx löst das Rätsel: „Verliebtsein ähnelt einem Drogentrip. Und genau das ist es auch. Die Droge heißt Dopamin.“ Schon der griechische Philosoph Platon formulierte: „Die Liebe erzeugt eine ähnliche Dringlichkeit wie Durst und Hunger.“ In seinem Buch „Resonanz“ schreibt der Soziologe Hartmut Rosa: „Wer verliebt ist, ist auf eine andere, verwandelte, neue Weise in die Welt gestellt, denn er oder sie verfügt nun übern den „vibrierenden Draht“ zur Welt – in Form des oder der Geliebten, das entscheidende Kriterium einer resonanten Weltbeziehung.“ Matthias Horx ist der profilierteste Zukunftsdenker im deutschsprachigen Raum.

Weiterlesen

Das Gedächtnis ist ein Wunder der Evolution

Das menschliche Gedächtnis ist hoffnungslos störanfällig und unfassbar ungenau. Alle Menschen haben ein bedenklich fehlerhaftes Erinnerungsvermögen. Das Gedächtnis leidet unter biologischen Schwächen, Wahrnehmungsfehlern, Kontaminierung, Aufmerksamkeitsverzerrungen, Selbstüberschätzung und Konfabulation. Beim Metagedächtnis dagegen handelt es sich um das Wissen über das Gedächtnis und seine Funktionsweise. Julia Shaw fügt hinzu: „Es ist eine Art Metakognition, ein Nachdenken über das Denken. Dass wir diese Fähigkeit besitzen, bedeutet, dass wir uns Gedanken darüber machen können, warum wir uns erinnern, wie wir uns erinnern und wie gut wir darin sind, uns an einzelne Informationen zu erinnern.“ Eine der ersten Studien über das Metagedächtnis wurde 1965 von Joseph Hart entwickelt. Er wollte ein ganz bestimmtes Merkmal des Metagedächtnisses verstehen, ein Konstrukt, das er das „Gefühl des Wissens“ nannte. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Weiterlesen

Echte Liebe zeichnet vorbehaltlose Exklusivität aus

Die Liebe gibt der geliebten Person die Möglichkeit, Person zu sein, und zwar auf eine einmalige, unverwechselbare Art Person zu sein. Robert Spaemann fügt hinzu: „Und es sind die Augen des Liebenden, die diese Einzigartigkeit wahrnehmen, eine Einzigartigkeit, die mehr ist als die Kombination empirischer Qualitäten.“ Der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila schreibt: „Jemanden lieben heißt den Grund verstehen, den Gott hatte, diesen Menschen zu erschaffen.“ In diesem Sinn macht Liebe sehend: Sie lässt den Geliebten in einem Glanz erscheinen, den niemand sonst wahrnimmt. Und wenn der Glanz in der Alltäglichkeit zu verblassen beginnt, dann heißt das nicht, dass nun langsam die Wirklichkeit so erscheint, wie sie ist, sondern im Gegenteil. Der Liebende wird die Erinnerung an den gesehenen Glanz bewahren. Robert Spaemann lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Weiterlesen

Die Identität eines Menschen besteht in seiner Erzählung

So gut wie alle Wissenschaften vom Menschen – vornehmlich die Cultural Studies, Anthropologie und Geschichtswissenschaft – sind sich darin einig, dass die Identität eines Menschen in der Erzählung besteht, die ihm aus sich zu manchen gelingt. Christian Schüle ergänzt: „Eine Person ist ihre Geschichte, und Heimat ist das Narrativ dieser Geschichte. Nur in der Schilderung meiner Realität erlangt die Geschichte meiner Person Glaubwürdigkeit.“ Nur über das Narrativ wird Herkunft zur Identität. Christian Schüle formuliert es noch genauer: „Die Identität ist selbst das Narrativ: Ich bin, was ich von mir erzähle.“ Dabei ist zu beachten, dass die Erinnerung nicht mit dem Gedächtnis gleichzusetzen ist, obwohl sie sich natürlich nicht vom Gedächtnis trennen lässt. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Weiterlesen

Ohne Grenzen wird die Freiheit zum Zufall oder zum Chaos

Viele Menschen suchen stets nach einer Instanz, der sie die Verantwortung für das eigene Tun aufbürden können. Früher machte man vor allem Gott, die Vorsehung, dann – die Politik verantwortlich. Reinhard K. Sprenger ergänzt: „Heute scheinen einige Naturwissenschaftler die Rolle übernehmen zu wollen und kommen damit einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach faktischer naturwissenschaftlicher Sicherheit nach.“ Sie unterscheiden zunächst zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. Die Handlungsfreiheit besteht in der Wahl der Mittel und Wege zu bestimmten Zielen. Die Handlungsfreiheit sagt: „Wir können tun, was wir wollen.“ Die Willensfreiheit ist davon zu scheiden. Sie besteht darin, sich ohne fremdes Diktat eigene Ziele zu setzen. Hier lautet die Frage: „Können wir auch wollen, was wir wollen?“ Reinhard K. Sprenger ist promovierter Philosoph und gilt als einer der profiliertesten Managementberater und Führungsexperte Deutschlands.

Weiterlesen

Gedanken sind in Wahrnehmungen oder Ideen verankert

„Denken“ wird nur selten als Fachterminus oder philosophischer Begriff benutzt. Intuitiv hat er laut David Gelernter aber eine klare Bedeutung: „Wir meinen damit die bewusste, absichtliche Handhabung mentaler Zustände, mit der wir, von den gegebenen Rohmaterialien ausgehend, ein Ziel erreichen wollen. Das Musterbeispiel ist die Vernunft.“ Man geht von bestimmten Voraussetzungen aus und hat ein Ziel. Darauf begibt man sich auf einen logischen Weg, der einen von den Voraussetzungen zum Ziel führt; es ist ein mentaler Weg, ein Gedankenweg. Damit dieser Gedankengang in eine Handlung umgesetzt wird, ist unter Umständen eine weitere Runde des vernünftigen Denkens notwendig. Das it mentale Manipulation, mentales Tun, die Anwendung des Geistes auf die Realität. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

David Gelernter kennt die Ränder der Träume

Viele Menschen wissen, dass sie nicht nur mehr schläfrig sind, dass sie vielmehr auf der Gleitbahn zum Schlaf hinabrutschen. Dann bemerken sie plötzlich einen Gedanken, der im Bewusstsein herumlungert, ohne dass sie ihn dorthin gebracht haben. Oft werden also an den Rändern der Träume Gedanken bewusst, die anscheinend leicht übersehen werden – genau wie im Wachzustand manche Dinge an den Rändern des Bewusstseins auffallen. David Gelernter erläutert: „Die Tatsache, dass wir den Gedanken nicht ins Bewusstsein befördert haben, kennzeichnet den Beginn des freien Gedankenflusses oder Assoziierens und damit unseren langsamen Abstieg in den Schlaf und in die Träume.“ Unterhalb der Regionen der Tagträume tritt man in den Bereich des freien Fließens ein, der zum Schlaf führt. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

In der Gruppe ist der Mensch vorhersagbar unvernünftig

Normative Einflüsse von Gruppen auf ihre Mitglieder wirken in Situationen, in denen das einzelne Gruppenmitglied nicht auffallen möchte, gleichgültig, ob es glaubt, die Gruppe habe recht oder nicht. Julia Shaw fügt hinzu: „Informative soziale Einflüsse werden ebenfalls von Gruppen ausgeübt, aber sie erfordern sie nicht unbedingt. Sie wirken bei Gelegenheiten, bei denen wir glauben, jemand anderes sei besser informiert als wir, und daher seine Informationen übernehmen.“ Diese Einflüsse helfen erklären, warum eine Person die Darstellung einer anderen übernimmt. Sie möchte entweder die anderen Person nicht dadurch verstimmen, dass sie anderer Meinung ist (normativer Einfluss), ober aber sie glaubt wirklich, dass die andere Person eine Darstellung besser in Erinnerung hat als sie selbst (informativer Einfluss). Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Weiterlesen

Der Mensch kann von illusionären Erinnerungen getäuscht werden

In einem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahr 1975 prägten John Flavell und Henry Wellman von der Minnesota University „Metagedächtnis“ (metamemory), um auf eine wichtige Fähigkeit hinzuweisen, mit der alle Menschen ausgestattet sind und die bei der Selbstkorrektur des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle spielt. Julia Shaw erklärt: „Unter Metagedächtnis versteht man, dass das Individuum wahrnimmt und weiß, dass es ein Gedächtnis hat. Dazu gehört auch unser Wissen um unsere Erinnerungsfähigkeit und ein Verständnis für Strategien, die unser Gedächtnis verbessern können. Und es umfasst unsere Fähigkeit, zu überwachen, woran wir uns korrekt erinnern können, und unsere Erinnerungen zu analysieren, um ihre Plausibilität zu bestätigen.“ Wenn man sich also selbst auf die Schliche kommt und merkt, dass eine der persönlichen Erinnerungen falsch ist, dann nutzt man sein Metagedächtnis. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Weiterlesen

Im frühen 21. Jahrhundert war die Zukunft ausgesperrt

Was würde sich ein Historiker, der im 22. Jahrhundert fragen, wenn er über das frühe 21. Jahrhundert forscht? Er würde wahrscheinlich zwei Dinge nicht verstehen. Philipp Blom spekuliert: „Einerseits würde er sehen, dass die beginnende Erderwärmung längst wissenschaftlich erfasst war und beobachtet wurde, dass die damaligen Gesellschaften aber nur sehr langsam und zögerlich auf diese enorme Transformation reagieren.“ Anderseits würde er sehen, dass die Digitalisierung bereits angefangen hatte, tief in wirtschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen und politische Machtgefüge einzugreifen und sie neu zu formen, aber dass auch diese Entwicklung nur kleinteilige und häufig rein symbolische Reaktionen nach sich zog. In den damaligen Gesellschaften, so könnte er schließen, drehte sich aus schwer erklärlichen Gründen alles um die Verwaltung von Erwartungshaltungen und um die Verteidigung von Privilegien. Die Zukunft war im Grunde ausgesperrt worden. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

Weiterlesen

David Gelernter kennt die Themen des Traums

In Träumen ist eine endlose Zahl von Themen möglich, aber bestimmte Motive sind als Grundbestandteile anderer Gefühle allgegenwärtig. David Gelernter nennt ein Beispiel: „Das wichtigste davon ist eine bestimmte Form des Heimwehs, die Sehnsucht nach einer Heimat, die es nicht mehr gibt und nie mehr geben wird.“ Die Trauer um den Verlust der Heimatwelt, die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat, ist in gewisser Weise ein Zeichen, dass man Glück gehabt hat; wer sie erlebt, denkt voller Liebe oder Zuneigung – oder zumindest mit Nostalgie – an das vergangene Leben. Aber die Sehnsucht nach verlorener Heimat findet man selbst bei Menschen, die eine schlimme Kindheit hatten. Sie ist ein machtvoller und nahezu universeller Impuls, der nicht nur den eigenen Erinnerungen zugrunde liegt. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

Das Thema eines Traums ist ein Gefühl

Beim Träumen hat der bewusste Geist den Gedächtnishahn weit geöffnet, und die Erinnerungen strömen hinaus. Das eine führt zum anderen. Beängstigende oder schmerzliche Erinnerungen tauchen auf. Der bewusste Geist kann nur noch eines tun: Er improvisiert aus dem vorhandenen Material eine zusammenhängende Handlung oder versucht es zumindest. Der amerikanische Traumforscher Allan Hobson bezeichnet die Traumgedanken zusammenfassend als „unlogisch, bizarr“. Diese weitverbreitete Auffassung ist nach der Überzeugung von David Gelernter nicht ganz richtig: „Wie im Wachzustand, so sind unsere bewussten Gedanken auch im Traum ein rationaler Versuch, der Realität einen Sinn zu geben.“ Wenn ein Mensch schläft, besteht die Realität aus dem inneren Bereich des Bewusstseins – und dann präsentiert sie dem Schlafenden eine Reihe von Erinnerungen, die in ihrer Abfolge wahrscheinlich keinen Sinn ergeben und auch jeweils schadhaft oder entstellt sein können. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

Das Kurzzeitgedächtnis kann Informationen 30 Sekunden behalten

Frühe Erinnerungen an die Kindheit sind physiologisch gesehen sehr anfällig für Verzerrungen. Wenn Wissenschaftler über die Reifung des Gedächtnisses sprechen, also über die Veränderung des Gedächtnisses im Laufe des Älterwerdens, sprechen sie typischerweise getrennt über die Veränderungen im Kurzzeitgedächtnis und im Langzeitgedächtnis. Julia Shaw erklärt: „Das Kurzzeitgedächtnis ist ein System im Gehirn, das kleine Informationsmengen für kurze Zeit behalten kann. Sehr kurze Zeit – nur ungefähr 30 Sekunden.“ Wenn man sich beispielsweise eine Telefonnummer merken will und sie im Stillen so lange vor sich hersagt, bis man sie wählt – sie also in der sogenannten phonologischen Schleife speichert – dann benutzt man sein Kurzzeitgedächtnis. Dieses System kann nicht viel Gedächtnisinhalt aufnehmen. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Weiterlesen

Forscher stellen die Unterscheidung von Denken und Fühlen infrage

Alle gefühlsmäßigen Regungen, die ein Mensch verspürt, sind nicht allein durch äußere Umstände erklärbar, sondern verweisen immer auch auf eine komplizierte innere Entstehungsgeschichte. Ulrich Schnabel ergänzt: „Und darin sind alle möglichen Erwägungen eingeflossen – ist das normal oder verrückt, erlaubt oder verboten, hilfreich oder schädlich …?“ Je nachdem wie ein Mensch oder sein Umfeld eine bestimmte Situation bewertet, kann ein Gefühl sich verstärken, sich abschwächen oder im Nu umschlagen. Gefühle sind daher immer auch ein „bewusstes Konstrukt“ und werden von rationalen Erwägungen mit gesteuert. Deshalb gehen heute manche Forscher sogar so weit, die althergebrachte Unterscheidung von Denken und Fühlen generell infrage zu stellen. Einer davon ist der Hirnforscher Ernst Pöppel. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

Weiterlesen

Man kann Menschen sehr einfach falsche Erinnerungen einpflanzen

Aus der Forschung weiß man, dass so gut wie jede vermeintliche Erinnerung vor dem dritten Lebensjahr eine Fiktion ist, weil alle Menschen an „infantiler Amnesie“ leiden. Man hat so gut wie keine autobiografischen Erinnerungen an seine ersten drei Lebensjahre. Philipp Hübl erklärt: „Viele von uns kennen sicherlich ähnliche Pseudoerinnerungen, die sich später anhand von Fotos oder Aufzeichnungen der Eltern eindeutig als falsch erwiesen haben.“ Die eigentliche Spannung zwischen Pseudoerinnerungen und der Wirklichkeit besteht darin, dass man sich subjektiv sicher ist, sich also von innen echt und real anfühlt, aber die Fakten eindeutig die Geschichte widerlegen. Auch Erwachsene sind anfällig für solche Irrtümer, und zwar so sehr, dass man nach einem Einblick in die Forschung seinen eigenen Lebenserinnerungen plötzlich skeptisch gegenübersteht. Er Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

Weiterlesen

Christian Schüle seziert den Begriff der Heimat

In seinem neuen Buch „Heimat“ enttarnt er in der Form einer kritischen Zeitdiagnose die nostalgischen Verklärung von Heimat als Phantomschmerz und setzt allem Rückwärtsgewandten die Haltung des aufgeklärten Humanisten entgegen. Sie verbindet das Bedürfnis aller Menschen nach Zugehhörigkeit und Identität mit den Grundwerten der Demokratie. Dazu zählt Christian Schüle Pluralismus, Toleranz und Freiheit. Heimat – das ist zuerst einmal die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Herkunft, die meist in einem rosaroten Licht erscheinen. Deshalb ist es mit Schmerzen verbunden, wenn die Heimat verlorengeht. Christian Schüle ergründet, wie dieser Schmerz in den Zeiten der Digitalisierung, der Globalisierung und der Migration gestillt werden kann. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Weiterlesen

Betrogene Partner neigen nach einer Affäre zur Besessenheit

Betrogene Partner scheinen ihre Besessenheit von einer Affäre nicht ablegen zu können, bis sie im Besitz aller Antworten sind – was Monate dauern kann. Sie wälzen die Lügen und unbeantworteten Fragen ständig in ihrem Kopf. Shirley P. Glass fügt hinzu: „Sie entwickeln Fixierungen auf visuelle Eindrücke, Gesprächsschnipsel oder verwirrende Erinnerungen, deren Sinn sie nicht verstehen. Sie investieren eine Menge Energie, um die Wahrheit über frühere Lügen herauszufinden.“ Der betrogene Partner beginnt, frühere Lügen wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild der Täuschung zusammenzufügen. Etwas zu vergessen, wäre fatal. Vor dem Hintergrund der zerstörten Erwartungen wird die gesamte Geschichte der Ehe durchgegangen. Dr. phil. Shirley P. Glass war niedergelassene Psychologin und Familientherapeutin. Sie starb im Jahr 2003 im Alter von 67 Jahren an einer Krebserkrankung.

Weiterlesen

Sadismus und Masochismus sind allgegenwärtig

Erinnerungen an intensive emotionale Situationen üben einen starken Sog auf alle Menschen aus – insbesondere Erinnerungen an Schmerzen oder Gewalt. David Gelernter erklärt: „Dass solche Erinnerungen uns anziehen, liegt an unserer morbiden Faszination, unserem angeborenen Sadismus oder Masochismus.“ Ein Sadist ist man insofern, als man sich von den Schmerzen anderer Menschen angezogen fühlt, und ein Masochist ist man, weil einen Erinnerungen auch dann anziehen, wenn man sie unangenehm, schmerzlich oder abstoßend findet. Sadismus und Masochismus sind allgegenwärtig und so menschlich wie das Atmen. Vor allem aber ziehen Menschen diese Erinnerungen wegen ihrer schieren Intensität an. Das Hellste, Lauteste, Größte, Stärkste weckt immer die Aufmerksamkeit, ganz gleich, was es ist. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

Die Klugheit sprengt die Fesseln der Unmündigkeit

Denken bedeutet, im mentalen Innenraum zu experimentieren. Menschen bedienen sich ihres immensen Erinnerungsschatzes, den sie über ihre Erziehung, Kultur und Bildung erworben haben, und erleben ihre Gedanken als persönliche Kreationen. Meistens merken sie nicht, dass sie der Erfahrung eines Mitmenschen nachplappern oder durch ein unbewusstes Motiv beeinflusst werden. Denn das Denken ist immer beeinflusst vom Milieu und der Geschichte eines Menschen. Allan Guggenbühl rät: „Um aus dieser Falle herauszukommen, müssen wir es wagen, unseren Irritationen zu folgen, das Außergewöhnliche anzudenken. Klugheit bedeutet, sich immer wieder aus der selbst auferlegten Unmündigkeit zu befreien, Nischen zu entdecken und Rituale zu entwickeln, in denen die Vorgaben des politisch korrekten Denkens und persönlicher Prägungen abgelegt werden.“ Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Weiterlesen

Phantasien und Tagträume sind sich sehr ähnlich

Tagträume und Phantasien sind schwer voneinander zu unterscheiden. Im normalen Sprachgebrauch meint man mit Phantasien häufig Tagträume mit sexuellem Inhalt. David Gelernter stellt fest, dass Phantasien den eigenartig dämmrigen Gedanken des Einschlafens und dem Schlaf selbst einen Schritt näher stehen als die Tagträume: „Phantasien, die uns überkommen, ähneln eher echten Träumen, nur sind sie keine Halluzinationen.“ In Phantasien kommen fast ebenso häufig absonderliche Situationen vor wie in Träumen. Bizarre Elemente sind keineswegs nur ein Begleitmaterial von Träumen, sondern sie fließen auch in vielfältiger Weise in die Phantasietätigkeit von Wachen ein. Die meisten Menschen erinnern sich an Phantasien ebenso wie an Träume nur schlecht. Phantasien, die einen Menschen mit Beschlag belegen, die Aufmerksamkeit fesseln oder ablenken, sind meist lebhaft. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Weiterlesen

Die Momente des Innehaltens sind die intensivsten des Liebesspiels

Der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1938 – 2002), ein Kollege Thomas Nagels, widerspricht dem Klischee des prüden Amerikaners mit den Worten des Kenners, indem er sinnfällig die Erregung beschreibt, die nur das Zwischenmenschliche bieten kann: „Manchmal konzentrieren wir uns beim Liebesakt auf die winzigsten Bewegungen, das zarteste Streifen eines Haars, das langsame Wandern der Fingerspitzen oder der Nägel oder der Zunge über die Haut, die geringste Veränderung oder das Einhalten an einem Punkt.“ Die Momente des Innehaltens sind für ihn die intensivsten des Liebesspiels. Ludger Pfeil ergänzt: „Das Warten auf das, was als Nächstes geschieht, schärft die Wahrnehmung aufs äußerste. Das gegenseitige Wissen um die Spannung und die Fokussierung auf die Empfindungen des anderen erhöhen den Reiz weiter.“ Der Philosoph Dr. Ludger Pfeil machte nach seinem Studium Karriere in der Wirtschaft als Projektleiter und Führungskraft und ist als Managementberater tätig.

Weiterlesen

Durch den Schmerz kann eine Schuld beglichen werden

Das innerste Prinzip der Rache ist die Zurückzahlung: Wie du mir, so ich dir. Und auch dem tiefen Wunsch nach Reue, den der oder die Verzeihende hegen mag, wohnt eine derartige Logik der Vergeltung inne. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Wenn ich schon auf Rache verzichte, dir deine Schulden erlasse, zeig dich wenigstens erkenntlich. Beweise deine Demut! Deine Dankbarkeit! Dein schlechtes Gewissen! Gib mir irgendetwas zurück!“ Diese Erwartungshaltung, dass eine Gabe mit einer Gegengabe entgolten werden muss, ist keineswegs erst ein Resultat kapitalistischer Tauschwertlogik, sondern bereits in archaischen Gesellschaften zu finden und also tief im Menschen verwurzelt. Diese Verwurzelung zeigt sich heutzutage an jedem Geburtstag. In dem Geschenk, das man von einem Freund empfängt, ist auch der Freud auf eigentümliche Weise anwesend. Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Weiterlesen