Viele Deutsche fürchten sich vor dem sozialen Abstieg

Der Ruf nach dem starken Staat zeigt immer die Annahme einer schwachen Gesellschaft an – wenn Schwäche im Verhängniszusammenhang von Orientierungsverlust und Angst vor dem persönlichen Abstieg besteht. Christian Schüle erläutert: „Individuelle Verlustangst ist die treibende Kraft hinter der Ablehnung jener Mächte, die man dafür verantwortlich macht: Globalisierung, Kapitalismus, Migration. Sie alle, so lässt sich solches Denken personalisieren, nehmen mir auf meiner Scholle in meiner Heimat das mir Zustehende ab.“ Großherzigkeit, Humanitarismus, Toleranz und Solidarität, heißt das im Umkehrschluss, muss man sich leisten können. Und sie sind nur dann möglich, wenn das eigene Ich stabil im Leben steht, getragen von einem formidablen Bruttoinlandsprodukt mit relativer Perspektive von stabilen Wohlstand, Wachstum, Steigerung und Verbesserung, wenn man sich in relativer Ruhe nach oben orientieren kann. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Der Mensch gibt sich durch die Verwendung von Zeichen Sinn und Orientierung

Laut Ernst Cassirer (1874 – 1945) ist der Mensch vor allem ein zeichenverwendendes und zeichenhervorbringendes Wesen – ein „animal symbolicum“. Wolfram Eilenberger ergänzt: „Er ist mit anderen Worten ein Wesen, das sich selbst und seiner Welt durch die Verwendung von Zeichen Sinn, Halt und Orientierung gibt. Das wichtigste Zeichensystem des Menschen ist dabei seine natürliche Muttersprache.“ Doch gibt es zahlreiche andere Zeichensysteme – in Ernst Cassirers Begrifflichkeit: „symbolische Formen“ –, etwa die des Mythos, der Kunst, der Mathematik oder der Musik. Diese Symbolisierungen, seien es sprachliche, bildliche, akustische oder gestische Zeichen, verstehen sich in der Regel nicht von selbst. Der fortlaufende Prozess, in dem Zeichen in die Welt gesetzt und durch andere Menschen interpretiert und verändert werden, ist der Prozess der menschlichen Kultur. Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, ist „Zeit“-Kolumnist und moderiert „Sternstunden der Philosophie im Schweizer Fernsehen.

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Das Zeitalter der großen Gereiztheit ist angebrochen

In der Welt der sozialen Netze herrscht längst ein Zustand rauschhafter Nervosität, eine Stimmung der kollektiven Gereiztheit, weil alles ans Licht gezerrt wird, sei es das Banale oder das Bestialische, die enthemmte Beschimpfung und die anonyme Attacke. Bernhard Pörksen analysiert in seinem neuen Buch „Die große Gereiztheit“ die Erregungsmuster der digitalen Epoche und das große Geschäft mit der Desinformation. Der Autor führt vor, wie sich die Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen, der Charakter von Debatten und die Vorstellung von Autorität und Macht verändern. Heute kann jeder Nachrichten versenden, der Einfluss der etablierten Medien schwindet. In dieser Gemengelage sollte der kluge und intelligente Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung gehören und in der Schule gelehrt werden. Denn die Mündigkeit in Bezug auf die Medien ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

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Eine Kultur entsteht durch Intelligenz und Gefühle

Herkömmlicherweise erklärt man die kulturellen Bestrebungen der Menschen unter dem Gesichtspunkt des außergewöhnlichen menschlichen Intellekts. Dabei hält man die Gefühle kaum einer Erwähnung wert. Antonio Damasio stellt fest: „Die Stars der kulturellen Entwicklung sind vielmehr die Expansion von menschlicher Intelligenz und Sprache sowie das ungewöhnliche Ausmaß an Geselligkeit.“ Auf den ersten Blick gibt es gute Gründe dafür, eine solche Erklärung für plausibel zu halten. Die Kulturen der Menschen zu erklären, ohne dabei die Intelligenz zu würdigen, die sich hinter den neuartigen Mitteln und Vorgehensweise namens Kultur verbirgt, ist undenkbar. Dass die Beiträge der Sprache für die Entwicklung und Weitergabe von Kulturen entscheidend sind, muss nicht eigens betont werden. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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Die Angst zerstört jede Zwischenmenschlichkeit

Jeder Mensch sollte sich mit der Wirkweise der Angst auseinandersetzen. Als Faustregel gilt: Je verängstigter man ist, desto weniger differenziert kann man denken. Wird die Angst größer, nehmen Tendenzen der Pauschalisierung ebenfalls zu. Georg Pieper erläutert: „So kann ein radikales Schwarz-Weiß-Denken entstehen, bei dem man alles in Gut und Böse unterteilt. Und gegen das Böse ist, glaubt so mancher, alles erlaubt. Diese Haltung wird dann zum gesellschaftlichen Problem, denn sie gefährdet unseren Wertekanon.“ Wenn die Angst überhandnimmt, entsteht also eine große Gefahr für die Gesellschaft. Die Angst zerstört jede Zwischenmenschlichkeit. Verschiedene sozialpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Deutschen vor allem auf Fremde immer zuerst mit Vorurteilen und Ängsten reagieren. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Einsamkeit verursacht die verschiedensten Krankheiten

Einsamkeit ist eine weltweite Epidemie. Laut einer vergleichenden Umfrage hat sich zumindest in den USA die Zahl der Menschen, die keinen Vertrauten haben, mit dem sie über wichtige Dinge reden können, in weniger als zwei Jahrzehnten, von 1985 bis 2004, fast verdreifacht. Der Hirnforscher und Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto stellt fest: „Einsamkeit kann genauso wie Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung zu einem frühen Tod führen.“ Die Einsamkeit schädigt den Körper eines Menschen und verändert seine Wahrnehmung der Welt und wie er mit ihr interagiert. Sie verursacht Erschöpfung und Schlafstörungen und geht einher mit Stress, Angst und Depressionen. Sie wird mit erhöhtem Blutdruck und Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems in Verbindung gebracht. Sei begünstigt zelluläre Entzündungsreaktionen und schwächt die Immunabwehr. Sie kann sogar zu geistigem Verfall und schließlich Demenz führen.

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Georg Pieper beschreibt die neurotische Gesellschaft

Eine wirklich angstvolle, neurotische Gesellschaft reagiert in akuten Situationen der Bedrohung eher panisch als besonnen. Als Psychologe weiß Georg Pieper, dass ein angstgeprägter Mensch sich schnell angegriffen fühlt und zurückschlägt. Aus psychologischer Sicht ist es seiner Meinung nach nicht auszuschließen, dass eine neurotische, von Angst gelenkte Gesellschaft mit einer entsprechenden politischen Führung aggressiv wird und schlechte Entscheidungen fällt. Die Gesellschaft in Deutschland driftet auseinander, diese beunruhigende und bedrückende Entwicklung verfolgt Georg Pieper schon länger. In den vergangenen Jahren wurde die Kluft zwischen Arm und Reich ständig größer und im sozialen Klima immer deutlicher spürbar. Nun treibt die Angst vor Terror und anderen Unsicherheiten weitere Risse durch die Gesellschaft und ist auf dem besten Wege, sie in unversöhnliche Fraktionen zu spalten. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Die Streitkultur ist die Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit

Für Carlos Fraenkel ist die Philosophie nicht eine Anleiterin oder Trösterin, sondern eine Diskussionstechnik. Viele Menschen sind in moralischen, religiösen und philosophischen Fragen weit voneinander entfernt. Diese Differenzen, obschon frustrierend, können etwas Positives sein, wenn es gelingt, sie zum Ausgangspunkt einer produktiven Streitkultur zu machen. Carlos Fraenkel erklärt: „Die gemeinsame Suche nach der Wahrheit, denn genau das verstehe ich unter Streitkultur, bietet uns die Möglichkeit, die Überzeugungen und Wertvorstellungen zu prüfen, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir meist für selbstverständlich halten.“ Das ist besser, als wenn man anderen die eigene Meinung aufzwingt oder sich in einer gleichgültigen Multikulti-Gesellschaft gemütlich einrichtet – so als wären die Unterschiede völlig unerheblich. Carlos Fraenkel ist James McGill Professor für Philosophie und Judaistik an der McGill University in Montreal.

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Das Böse ist das Fremde und radikal Andere

Das Böse. Dunkel, geheimnisvoll, furchteinflößend. Als das Unfassbare schlechthin, das menschliches Vertrauen in die Welt erschüttert, reizt es zu Dämonisierungen – und auch zu Projektionen. Das Böse ist das Fremde. Das radikal Andere. Ob Heimtücke, Falschheit oder Hinterlist, ob Missbrauch, Amoklauf oder Terrorismus: Den gesunden Menschenverstand übersteigend verursacht die böse Tat Abscheu, Angst und ein tiefes Schutzbedürfnis. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Das Böse muss bekämpft werden. Überwacht, weggesperrt, ausgeschlossen – gar ausgerottet.“ Aber könnte es nicht sein, dass das Böse gar nicht von außen kommt, verschlagen und verführerisch in Häuser und Herzen drängt – sondern vielmehr uranfänglich in uns selbst lebt? Tatsächlich zeigt sich ja gerade im Schlaf, wie ungeheuerlich die Phantasien eines Menschen sein können. Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

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Die Nähe hüllt sich ständig in ein neues Gewand

Der Hirnforscher und Molekularbiologe Giovanni Frazzetto vermittelt in seinem neuen Buch „Nähe“ die aktuellsten Erkenntnisse der Neurobiologie über die Liebe, Partnerschaft, Freundschaft und Familie. Er beantwortet dabei unter anderem folgende Fragen: Warum betrügen wir unsere Partner, obwohl wir sie lieben? Weshalb fühlen wir uns häufig von Menschen angezogen, die sich überhaupt nicht binden wollen? Und welche Auswirkung kann Einsamkeit auf den Körper eines Menschen haben? Giovanni Frazzetto erklärt, wie das komplexe Zusammenspiel von Körper und Geist funktioniert, das Nähe zwischen Menschen erst ermöglicht. In acht „Liebesgeschichten“ beschreibt der Autor, wie Menschen versuchen, einander näherzukommen und welche Rolle Hormone, Gene und soziale Normen dabei spielen. Der Hauptdarsteller seines Buchs ist die Nähe, nach der sich fast jeder Mensch sehnt. Denn Einsamkeit kann töten, während das Zusammenleben mit einem geliebten Menschen euphorische Gefühle erzeugt.

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In einer überforderten Gesellschaft leidet die Psyche der Menschen

Die deutsche Gesellschaft ist heute „gefühlt“ und tatsächlich mit enormen Belastungen konfrontiert. Die als bedrohlich empfundenen politischen Entwicklungen haben nicht nur Auswirkungen auf die Psyche der Deutschen, sondern auch auf ihr Leistungsvermögen. Eine Beobachtung erstaunt Georg Pieper bei seinen Einsätzen als Notfallpsychologen immer wieder: „In realen oder vermeintlichen Gefahrensituationen haben wir nicht unbedingt Angst um uns selbst, sondern oft viel mehr um unsere Liebesten und unsere Mitmenschen.“ Selbst Menschen, die sich in höchst gefährlichen Situationen befanden, fürchteten viel weniger um ihr eigenes Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit als um das Wohlergehen ihrer Angehörigen. Das ist, glaubt Georg Pieper, ein angeborener Mechanismus des Menschen. Das man Angst um seine Lieben hat, ist natürlich an sich nichts Schlechtes. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Der Klimawandel ist ein todbringender Prozess

Der Klimawandel wirkt gewissermaßen von außen auf die natürliche Welt ein und ist ein schleichender Prozess, der nur durch die immer stärkere Häufung spektakulärer Katastrophen wie Sturmfluten, Orkane, Dürren oder sintflutartige Regenfälle mediale Aufmerksamkeit erregt. Philipp Blom ergänzt: „Das langsame Verschwinden einer bestimmten Froschart, das langsame Vordringen der Wüsten oder der millimeterweise Anstieg des Meeresspiegels liefert einfach weniger gute Bilder als zerstörte Häuser, verzweifelte Menschen, gigantische Schlammlawinen oder Waldbrände.“ Gerade diese wenig spektakulären und langsamen Entwicklungen aber können auf lange Sicht wesentlich entscheidender sein als lokale Verwüstungen. Das Absterben von Plankton durch wechselnde Meerestemperaturen und übersäuerte Ozeane zum Beispiel hat Einfluss auf die gesamte Nahrungskette und damit auf das Überleben von zahlreichen maritimen Arten und Millionen von Menschen. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Viele Menschen leiden an unbegründeten Ängsten

Sehr viele Menschen fürchten sich vor Spinnen. Damit haben sie Angst vor etwas, das ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Schaden zufügen wird. Dazu zählen neben Spinnen, Schlagen und Höhen. Tali Sharot zählt noch mehr unbegründete Ängste auf: „Manchen Menschen erleiden auf offenen Plätzen eine Panikattacke, andere, wenn sie einem Hund begegnen oder einen Blitz sehen. Wieder andere fürchten sich vor Aufzügen oder vor dem Fliegen.“ Tatsächlich ist die einzige gerechtfertigte Angst in der Liste der Top Ten unter den Phobien die Furcht vor Krankheitserregern – die Mysophobie – auf Platz acht. Die Angst vor dem Tod selbst belegt Platz Nummer zwölf. Tali Sharot wurde an der New York University in Psychologie und Neurowissenschaften promoviert und ist Professorin am Institut für experimentelle Psychologie der University of London.

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Anja Förster und Peter Kreuz stellen die drei Gesichter des Nein vor

Warum es für viele Menschen so schwierig ist, das Nein auszusprechen, ist im Kern auf das Spannungsverhältnis zwischen der Ausübung von Macht und der Pflege von Beziehungen zurückzuführen: Sie wollen ja niemanden vor den Kopf stoßen! Anja Förster und Peter Kreuz erklären: „Macht ausüben ist ein zentraler Bestandteil des Neinsagens, belastet in der Regel aber die Beziehung. Die Beziehung zu pflegen kann aber die eigene Macht schwächen.“ Diesem Dilemma begegnen die meisten Menschen mit drei Strategien ihres Verhaltens: anpassen, angreifen oder ausweichen – wie William Ury in „Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln“ schreibt. Anpassung bedeutet: Man sagt Ja, wenn man eigentlich Nein sagen will. Das heißt, man opfert seine eigenen Interessen der Beziehung, die man unbedingt erhalten will. Anja Förster und Peter Kreuz nehmen als Managementvordenker in Deutschland eine Schlüsselrolle ein.

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Die Erziehung der Kinder kommt nicht ohne Autorität aus

In der Regel ist in der Erziehung die Sicherheit dem Freiheitsdrang übergeordnet. Für Paul Verhaeghe ist elterliche Verfügungsgewalt über ihre Kinder heutzutage alles andere als selbstverständlich. Das Kinder frühreifer und frecher sind, ist nur die halbe Wahrheit. Paul Verhaeghe erklärt: „Die sogenannte Frühreife ist nämlich das Ergebnis davon, dass die Eltern Angst haben, mit der elterlichen Position auch die damit verbundene Autorität einzunehmen.“ Ihre Angst äußert sich ferner in zweifellos gut gemeinten, aber falsch verstandenen pädagogischen Prinzipien nach dem Motto „Kinder müssen mitreden dürfen“. Dabei vergessen viele Eltern, dass es sich um Kinder handelt, dass sie für ihre Kinder verantwortlich sind und bei allem Mitspracherecht das letzte Wort behalten müssen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Ein positives Selbstwertgefühl ist keineswegs die Ursache für Aggressivität

Hans-Peter Nolting betont, dass es nicht „die“ aggressive Persönlichkeit nicht gibt, sondern eine Reihe von Persönlichkeitszügen, die zu hoher Aggression beitragen. Gehören dazu auch Minderwertigkeitsgefühle? Hans-Peter Nolting erklärt: „Nach einer verbreiteten Ansicht überspielen Menschen mit ihrem harten, verletzenden und auftrumpfenden Verhalten, dass sie tief im Innern unter Selbstwertproblemen, unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden.“ Das hört man nicht nur in Alltagsdiskussionen, auch in Teilen der psychologischen Literatur wird diese Deutung vertreten. Das auffällig aggressive Verhalten wäre demnach nur eine Fassade. Doch wie kann man wissen, ob sich dahinter tatsächlich ein angeschlagenes Selbstwertgefühl verbirgt? Niemand kann das sehen, und die Betroffenen selbst klagen gewöhnlich nicht über „Komplexe“. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.

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Freude lässt sich durch zahlreiche Anreize erzeugen

Der große Universalgelehrte des 18. Jahrhunderts Jeremy Bentham beginnt sein einflussreichstes Werk mit den Worten. „Die Natur hat die Menschheit dem Regiment zweier oberster Gebieter unterstellt: Leid und Freude. Sie alleine legen uns nahe, was wir tun sollen, und sie alleine bestimmen, was wir dann wirklich tun. An ihrem Thron sind die Normen für Recht und Unrecht ebenso festgemacht wie die Kette von Ursachen und Wirkungen. Sie beherrschen in umfassender Weise unser Tun, unsere Reden, unser Denken.“ Tali Sharot nimmt sich die Freiheit zu vermuten, dass Jeremy Bentham die Begriffe „Freud“ und „Leid“ im weitesten Sinne benutzt hat, um gute und schlechte Gefühle zu beschreiben. Tali Sharot wurde an der New York University in Psychologie und Neurowissenschaften promoviert und ist Professorin am Institut für experimentelle Psychologie der University of London.

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Eltern müssen nicht immer und überall für ihre Kinder da sein

Eltern haben Macht und sorgen als Bezugspersonen für Sicherheit. In der Psychologie geht es häufig um die mehr oder weniger sichere Bindung von Kindern. Diese ist laut Paul Verhaeghe in der Tat von höchster Bedeutung: „Es handelt sich dabei im Wesentlichen um das Verhältnis zwischen Bezugsperson und Baby bis ins Vorschulalter. Wie sicher die Bindung eines Kindes ist, lässt sich paradoxerweise buchstäblich daran messen, wie gut es die Bezugsperson loslassen kann.“ Der Psychoanalytiker fügt hinzu: „Den Erfolg unserer Erziehung können wir daran messen, wie unsere Kinder sich von uns lösen können.“ Die vom Kleinkind gefühlte Sicherheit hängt ganz eng mit der Sicherheit und Vorhersehbarkeit zusammen, die es immer wieder erfahren hat. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Bei einem Trauma wird Todesangst erlebt

Eine Angststörung muss man ganz eindeutig von einer Traumastörung trennen. Georg Pieper erläutert: „Unter Trauma verstehen wir in der Psychologie außergewöhnlich belastende Ereignisse oder Situationen, in denen Todesangst erlebt wird. Entweder ist das eigene Leben direkt in Gefahr oder, wie zum Beispiel bei einer Vergewaltigung, die eigene körperliche Unversehrtheit schwer bedroht.“ Auch als Zeuge eines solchen Ereignisses kann man ein Trauma erleiden. In einer traumatisierten Situation erlebt man außerdem das Gefühl der totalen Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts. Man hat den Eindruck, die Situation nicht mehr handhaben zu können und ihr vollkommen ausgeliefert zu sein. Nicht alle Menschen entwickeln allerdings nach einer traumatisierenden Situation eine posttraumatische Belastungsstörung. Manche kommen mit solchen schweren Erlebnissen erstaunlich gut zurecht. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Im Existenzialismus ist der Mensch zur Freiheit verurteilt

Wer den Existenzialismus als bloße Modeerscheinung betrachtet, der irrt sich gewaltig. In seinem Kern möchte er das Denken auf das konkrete Leben zurückführen. Die Grundeinsicht der Moderne, dass Gott tot ist und der Mensch in der Welt keinen Sinn finden kann, betrachteten die Existentialisten nicht als Bürde, sondern als Chance. Catherine Newmark, Chefredakteurin der Sonderausgabe des Philosophie Magazins „Die Existenzialisten“ schreibt in ihrem Vorwort: „Sie folgerten daraus, dass jeder Mensch vollkommen frei ist, sein eigenes Schicksal zu gestalten.“ Eine starke Anziehungskraft übte der Existenzialismus auf die Emanzipationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, welche die Gesellschaften des Westens nachhaltig verändert haben. Sie reichen vom Antikolonialismus über die Studentenrevolte der 60iger Jahre bis zum Feminismus und zur Schwulenbewegung. Auch in der Gegenwart haben die Gedanken der Existenzialisten wieder eine herausragende Aktualität. Denn die Freiheit, die jeder Einzelne besitzt, ist untrennbar mit der Verantwortung für sich selbst und die Welt verbunden.

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Selbstvermesser wollen ihren Körper total kontrollieren

Der anspruchsvolle Vermesser des eigenen Selbst wird in aller Regel von seinem hohen Kontrollbedürfnis angetrieben. Den allgegenwärtigen Ungewissheiten setzt der Selbstvermesser sein Verlangen nach Körperkontrolle entgegen. Ernst-Dieter Lantermann fügt hinzu: „Was er kontrollieren kann, wird für ihn zu einem Ort verlässlicher Gewissheit, was sich seiner Kontrolle entzieht, zu einem Ort gefährlicher Ungewissheiten.“ Der Selbstvermesser schwört auf eine Strategie der Reduktion seiner Unsicherheit, die in der Forschung als „Kontrollmaximierung“ bekannt ist. Hintergrund dieser Strategie ist die Überzeugung, dass die irritierenden Unsicherheiten, die ein Leben in diesen Zeiten prägen, nur durch eine maximale Kontrolle ihrer Ursachen, Verläufe und Konsequenzen beherrscht und schließlich in Orte neuer Gewissheiten verwandelt werden können. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Sex hat als Machtmittel weitgehend ausgedient

Die patriarchale Autorität dominiert die Sexualität. In einer patriarchalischen Gesellschaft wird die Erotik als schlecht, unmoralisch und verwerflich gebrandmarkt, und die Frau gleich mit dazu, weil sie die Begierden aus dem Mann herauskitzelt. Paul Verhaeghe weiß: „Mit dieser Rollenverteilung wies das Patriarchat der Frau unbeabsichtigt eine ordentliche Portion Macht zu, von der „femme fatale“ bis zum „Schatz, heute nicht, ich habe Kopfschmerzen“. Und diese Macht wiederum erklärt die männliche Aggression gegen die Frau.“ Sex kann auch als Waffe eingesetzt werden, auch wenn dies mittlerweile aus der Mode gekommen ist, weil sie die moderne Haltung zur Sexualität dank Emanzipation und Pille völlig verändert hat. In der Menschheitsgeschichte jedoch kann eine Frau erst seit einem halben Jahrhundert unbekümmert Sex genießen und somit auch unmissverständlich danach verlangen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Sex ist gefährlich und mit Schmerz verbunden

Sex kann einzigartige Empfindungen der Lust erzeugen, aus Fremden Liebende werden lassen und einer Zweierbeziehung Dauer und Leidenschaft verleihen. In den Medien wird er oft als harmloses Vergnügen präsentiert, das für Fitness, Gesundheit und Wellness sorgt. Ihn darf nichts stören, weder Eifersucht noch Liebeskummer, noch Scham, noch die Angst vor dem Versagen. Thomas Junker fügt hinzu: „Für die negativen Seiten hat man oft die traditionelle, vor allem die religiöse Sexualmoral verantwortlich gemacht und sich von einer liberaleren Gesellschaft eine bessere, angst- und stressfreiere Sexualität erhofft.“ Ganz falsch ist das sicher nicht. Aber es ist für Thomas Junker auch nicht die ganze Wahrheit. Denn die Tatsache, dass Sex gefährlich, anstrengend und mit Schmerz verbunden ist, liegt in seiner biologischen Natur.“ Thomas Junker ist Professor für Biologiegeschichte an der Universität Tübingen.

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Der Mann hat seine privilegierte Stellung verloren

Ein kurzer Blick auf die Scheidungsraten zeigt, dass langfristige Beziehungen heute verglichen mit früher um einiges seltener geworden sind. Alle paar Wochen findet sich in einer Zeitschrift ein Artikel, in dem ein Wissenschaftler erklärt, warum das so ist. Paul Verhaeghe kennt die Veröffentlichungen: „Klinische Psychologen behaupten, junge Menschen hätten Probleme, sich zu binden, weil bei ihren Babyboom-Eltern einiges schief gelaufen ist. Die evolutionäre Psychologie vertritt die These, dass Männer vom Mars und Frauen von der Venus stammen – und sie konnten beisammen nicht kommen.“ Doch die auf der Hand liegende Erklärung ist viel weniger kompliziert und hat mit den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre zu tun. Die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau haben sich grundlegend verändert. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Der Kern der Selbststeuerung eines Menschen ist die Freiheit

Der Kern der Selbststeuerung eines Menschen ist die Freiheit. Ihre Einengung durch äußere oder innere Zwänge ist ein dem freien Willen entgegengesetztes Vorhaben. Joachim Bauer erklärt: „In einer Welt, deren Freiheitsgrade ohnehin abnehmen, stoßen Moralapostel, die dem Fundus schon vorhandener Regeln noch ihre eigenen hinzufügen wollen, auf keine Sympathie.“ Joachim Bauer findet es wunderbar, in einem freien Land wie Deutschland zu leben, in dem es jedem selbst überlassen bleibt, nach seiner Fasson selig zu werden. Die Gene eines Menschen steuern nicht nur, sie werden auch gesteuert. Gene sind nicht „egoistisch“, sondern Kooperatoren und Kommunikatoren. Sie stehen in einem ständigen molekularen Dialog mit Signalen, die ihnen aus ihrer Umgebung entgegenkommen. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

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