Die Liebe befähigt einen Menschen zum Vergeben

„Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet; welchem aber wenig vergeben wird, der liebet wenig“: Hannah Arendt zitiert diesen Satz aus dem Lukasevangelium, den Jesus über die ehemalige Prostituierte Marin Magdalena sagt, in ihrem Buch „Vita activa“. Der Ausspruch Jesu, so die Philosophin, verweise auf ein Wesensmerkmal des Vergebens – richtet sich dieses doch bei näherem Hinsehen nicht auf die Tat selbst als vielmehr auf den Menschen, der sie begangen hat. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Nicht das Vergehen, sondern seinem Urheber wird vergeben, denn: Er ist größer als seine Tat. Die Liebe, die im Täter wohnt, erhebt ihn über das Unheil, das er angerichtet hat.“ Aber wie ist zu erkennen, ob eine Sünderin tatsächlich viel liebt oder nur vorgibt, dies zu tun? Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Die Liebe braucht keinen Grund

Hannah Arendts Antwort auf diese Frage ist so verblüffend wie einfach: „Die Liebe selbst befähigt uns dazu. Der liebende Blick löst den Sünder heraus aus der Welt, die ihn umfängt, bewertet ihn nicht nach seine oberflächlichen Fehlern und Vorzügen, sondern dringt tief in sein Wesen.“ Wer liebt, liebt schließlich nicht aus einem bestimmten Grund. Ein Satz wie „Ich liebe dich, weil …“ ist ein Widerspruch in sich. Die Liebe überschreitet herkömmliche Strukturen der Begründung, mit denen man normalerweise sein Handeln und Empfinden rechtfertigt; sie hat Zutritt zu einem Bereich, der sich der Rationalität verschließt.

Hannah Arendt schreibt: „Der Grund für diese Vergebensbereitschaft ist nicht, dass die Liebe alles versteht und dass sich für sie der Unterschied zwischen Recht und Unrecht verwischt, sondern dass ihr – in den äußerst seltenen Fällen , wo sie sich wirklich ereignet – eine in der Tat so unvergleichliche Macht der Selbstenthüllung und ein so unvergleichlicher Blick für das Wer der Person in dieser Enthüllung eignet, dass sie mit Blindheit geschlagen ist in bezug auf alles, was die geliebte Person an Vorzügen, Talenten oder Mängeln besitzen oder an Leistungen und Versagen aufzuweisen haben mag.“

Ein Liebender sieht keinen bösen Willen beim Täter

Die Liebe, so Hannah Arendt, macht blind und sehend zugleich. Blind für das, was einen Menschen von außen auszeichnen oder auch zu diskreditieren vermag; sehend für sein wahres Wesen. Die Liebe fesselt den Blick. Wer wirklich liebt und die Liebe auch im Anderen erkennt, so legt Hannah Arendt nahe, lässt sich nicht abstoßen von einer krummen Nase, nicht abschrecken durch dieses oder jenes Fehlverhalten, so verletzend es für den Betreffenden auch gewesen sein mag. Untreue, Verrat, fehlende Loyalität: Jedes Vergehen wird verzeihbar, wenn man als Liebender der Überzeugung ist, dass der Mensch im Kern gut ist.

Hannah Arendt bringt diesen Zusammenhang wie folgt auf den Punkt: „Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache. Wenn ein Unrecht verziehen wird, so wird demjenigen verziehen, der es begangen hat, was natürlich nicht das Geringste daran ändert, dass das Unrecht unrecht war.“ Das Unrecht bleibt bestehen – doch es wird kein Ausgleich der Schuld gefordert. Den Täter, davon ist der Liebende überzeugt, hat kein böser Wille geleitet. Vielmehr war sein unrechtes Handeln eine nur allzu menschliche Verfehlung, die nicht vergolten, nicht gerächt, sondern eben: verziehen wird. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies