Die unverzeihliche Schuld braucht einen Verzicht auf Vergeltung

Es gibt Schulden, die sind schlechterdings nicht abzahlbar. So gewaltig ist ihr Umfang, dass sie nie und nimmer zu begleichen sind. Für viele Ökonomen ist in derartigen Fällen ein Schuldenschnitt die einzig rationale Lösung. Auch moralische Schuld ist mitunter nicht wiedergutzumachen. Weder durch so genannte Reparationszahlungen noch durch Schmerzensgeld oder noch so aufrichtige Bekundungen des Bedauerns. Gerade eine solche im Grunde nie zu begleichende Schuld ist für den französischen Philosophen Jacques Derrida Gegenstand des Verzeihens. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Nur eine unverzeihliche Schuld braucht einen Verzicht auf Vergeltung, weil jede verzeihliche Schuld sich sehr einfach begleichen lässt.“ Nur das Unverzeihbare, so Jacques Derrida wörtlich, „rufe“ nach Verzeihung. Dr. Svenja Flaßpöhler ist seit Dezember 2016 leitende Redakteurin im Ressort Literatur und Geisteswissenschaften beim Sender „Deutschlandradio Kultur“.

Schulden sind nicht nur einfach negativ

Dieser Ruf hat, so scheint es, überhaupt keine rationale Basis, sondern der Ruf funktioniert eher als Metapher, als Bild für etwas das jede Rationalität übersteigt: So wie der Mensch sein Herz öffnen muss, um bedingungslos lieben zu können, braucht er ein offenes Ohr, um auch das Unerhörte, den Ruf des Unverzeihlichen zu hören – und so in jenen Raum vorzudringen, in dem die Logik von Verbrechen und Strafen, Schuld und Sühne, keine Bedeutung mehr hat. Wer auf Vergeltung verzichtet, entlässt den „Täter“ bedingungslos in die Freiheit und schenkt ihm sein Leben.

Die Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus vertritt in ihrem Buch „Lob der Schulden“ die Sichtweise, dass Schulden nicht einfach nur negativ sind, sondern der Grund dafür, dass man sich überhaupt anderen verpflichtet fühlt, Verantwortung übernimmt, Versprechen hält. Dass Menschen einander etwas schulden ist für Nathalie Sarthou-Lajus durchaus nicht zwangsläufig mit krankmachenden, neurotischen Schuldgefühlen verbunden: Zwischen der anthropologischen und der moralischen Schuld zieht sie eine klare Grenze.

Niemand kann sich selbst verzeihen

Die anthropologische Schuld ist für Nathalie Sarthou-Lajus gleichsam ein Liebesvirus, der sich von Generation zu Generation überträgt: „Nur der, der liebt, ist tatsächlich auf ewig verschuldet, doch diese Schulden werden ohne Schuldgefühle abgezahlt, denn sie spiegeln die Freude über eine Gabe, die sicher nicht alle Wünsche erfüllt, aber unerschöpflich ist.“ Nathalie Sarthou-Lajus möchte der Schuld einen Legitimationshintergrund verleihen. Svenja Flaßpöhler stellt sich die Frage, ob die Liebe am Ende nicht zu bindend ist, um wirklich im wahrsten Sinne des Wortes „freigiebig“ zu sein.

Die Philosophin Hannah Arendt vergleicht in einer Passage ihres Buches „Vita activa“ das Verzeihen mit dem Versprechen und behauptet, beide Handlungen könne ein Mensch nicht für sich allein vollziehen: „Denn niemand kann sich selbst verzeihen, und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat. Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unverbindlich wie Gebärden vor dem Spiegel.“ Wer sich selbst verzeiht, so Hannah Arendt, agiert im virtuellen Raum. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies