Die Würde eines Menschen sollte unantastbar sein

Tastsinn und Takt, Feinmotorik und Fingerspitzengefühl kommen in der Formulierung einer unantastbaren Würde zusammen. Verhärtungs- und Verpanzerungsansprüche gehören ab jetzt in ein vergangenes Kapitel der Geschichte. Svenja Flaßpöhler schreibt: „Die Sensibilität ist es, die von nun an die Geschichte bestimmt und den Schutzraum des Subjekts über dessen Leiblichkeit hinaus ausweiten soll.“ Tatsächlich ist mit dem Schutz der Würde, von dem das deutsche Grundgesetz spricht, weit mehr gemeint als nur der Schutz vor körperlicher Gewalt. Ja, was die menschliche Würde genau ist, ist keineswegs für alle Zeiten festgesetzt und klar umgrenzt. Sondern sie ist, je nach Grad der gesellschaftlichen Empfindsamkeit, hart umstritten und höchst wandelbar. Stand bis vor wenigen Jahren handfeste Gewalt im Zentrum des Sexualstrafrechts, kann seit der Reform im Jahr 2016 auch ein falsch gedeuteter Wille rechtliche Konsequenzen haben. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Viele Menschen sind sensibler geworden

Für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte galt es als unproblematisch, von „Frauen“ und „Männern“ zu sprechen und ihnen bestimmte biologische Merkmale zuzuweisen. Heute empfindet man es als „transfeindlich“, also diskriminierend gegenüber Menschen, die in keine diese Kategorien hineinpassen. Svenja Flaßpöhler betont: „Die Sensibilisierung der Gesellschaft ist, unbestreitbar, ein wesentlicher Faktor zivilisatorischen Fortschritts.“ Moderne Gesellschaften sind fundamental angewiesen auf Individuen, die eigene wie fremde Belange sensibel wahrzunehmen vermögen.

Doch erleben die Menschen gerade, wie just diese konstruktive Kraft der Sensibilität in Destruktivität umzuschlagen droht. Anstatt sie zu verbinden, trennt sie die Empfindlichkeit. Sie zersplittert Gesellschaften in Gruppen, entwickelt sich sogar zur Waffe, und zwar auf beiden Seiten der Frontlinie. Den Kern des Kampfes bildet dabei die Frage, ob es das Individuum ist, das an sich arbeiten muss, um widerstandsfähiger zu werden. Ober ob vielmehr die Welt um es herum sich zu ändern hat.

Judith Butler steht auf der Seite der Revolution

Sind die Menschen dabei, zu Prinzessinnen auf der Erbse zu werden, die jede noch so kleine Störung als unzumutbar empfinden? Oder handelt es sich bei diesen vermeintlichen Nichtigkeiten vielmehr um strukturelle Gewalt, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt? Svenja Flaßpöhler formuliert es zugespitzter: „Wann ist individuelle Evolution gefragt – und wann gesellschaftliche Revolution? Wann Widerstandskraft und wann eine Transformation der Verhältnisse?“

Das sind Fragen, auf die es bislang, so scheint es, keine wirklich befriedigende Antwort gibt. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler etwa positioniert sich deutlich auf der Seite der Revolution. Sie meint: „Wird jemand durch eine rassistische oder homophobe Äußerung oder Handlung verletzt, ist das eine persönliche Erfahrung. Doch der Akt uns seine Wirkung aktivieren eine soziale Struktur. Das Gleiche gilt für sexuelle Belästigung.“ Denn die Belästigung besitzt stets eine individuelle Form der Handlung. Quelle: „Sensibilität“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies