Ein Verbrechen muss nicht verziehen werden

Die Philosophin Hannah Arendt schrieb 1953 in ihrem Aufsatz „Verstehen und Politik“: „Verstehen ist eine nicht endende Tätigkeit. Durch diese begreifen wir Wirklichkeit. In ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und versöhnen uns mit ihr. Das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zuhause zu sein.“ Manche Menschen versuchen die Bedingungen eines Verbrechens oder einer unmoralischen Handlung nachzuvollziehen. Dadurch bekommen sie wie Svenja Flaßpöhler salopp formuliert, wieder Boden unter ihre Füße. Zuerst schien die Welt gänzlich aus den Fugen geraten zu sein. Jetzt steht ihnen nicht mehr fremd, gar teuflisch gegenüber. Sondern sie ist jetzt der Rationalität zugänglich. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Verstehen heißt, Zusammenhänge herzustellen, Kausalketten zu erkennen.“ Doch, so ergänzt Hannah Arendt, ein solches Verstehen zieht nicht notwendigerweise ein Verzeihen nach sich. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Versöhnung mit der Welt ist möglich

Als Beweis für diese Behauptung dient Hannah Arendt der Totalitarismus. Zuerst muss man seine Strukturen zu verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Verbrechen, die sich in seinem Namen ereigneten, damit auch entschuldigt wären. Hannah Arendt erläutert: „In dem Ausmaß, indem das Heraufkommen totalitärer Regime das Hauptereignis unserer Welt ist, heißt den Totalitarismus verstehen nicht irgendetwas entschuldigen. Sondern es gilt sich mit der Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, zu versöhnen.“

Hannah Arendt kritisierte auch den allgemeinen Konformismus in der Gesellschaft. Die allgemeine und auch für das eigene Leben geltende Forderung der Philosophin lautete: „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Stelle dich, wenn dir dies richtig erscheint, gegen die Masse der Konformisten!“ Hierbei spricht die Philosophin ganz im Sinne Immanuel Kants. Michael Pauen und Harald Welzer schreiben in ihrem Buch „Autonomie“: „Wir würden niemanden als wirklich autonom bezeichnen, der seinen eigenen Prinzipien nur folgt, sofern die Bedingungen optimal und keine Hindernisse vorhanden sind.“

Ein selbstbestimmtes Leben überwindet Widerstände

Michael Pauen und Harald Welzer fahren fort: „Wer wirklich nach seinen eigenen Wünschen, Überzeugungen und Prinzipien leben will, der muss imstande sein, Widerstände zu überwinden. Man muss an den eigenen Prinzipien festhalten. Auch wenn andere widersprechen, man muss in der Lage sein, sich durchzusetzen. Wenn es Hindernisse gibt, darf man sich nicht beirren lassen, selbst wenn andere sich anders verhalten.“ Wünsche und Überzeugungen sind allerdings nur dann wirklich eigene, wenn sie der eigenen Kontrolle unterliegen.

Konkret heißt das, dass man sie aufgeben kann, sofern man sich dazu entschließt. Je größer allerdings die Grenzüberschreitung ist, die ein Mensch begeht, je ungewöhnlicher sein Handeln erscheint, desto schwieriger ist es zu entscheiden, ob diese Überschreitung Ausdruck von Autonomie oder doch eher das Resultat einer Krankheit ist.“ Klinische Erklärungen überführen eine Tat wieder ins Feld der Rationalität. Sie schaffen eine beruhigende Distanz zum Täter, ja, entschuldigen sein Handeln zumindest teilweise. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies