In einem Streit geht es immer um die Ausübung von Macht

In ihrem neuen Buch „Streiten“ stellt Svenja Flasspöhler zunächst einmal fest, dass es sich beim Streit um keinen Diskurs handelt, denn ein Streit ist niemals harmlos. Svenja Flasspöhler schreibt: „Wer in einen Streit verwickelt ist, erhebt die Stimme, um ihr Geltung zu verschaffen. Die Gemütslage ist erhitzt, die Gesichtsmuskeln sind angespannt.“ Zudem ist ein Streit nie frei von Herrschaft. Hier geht es um Macht, weil Menschen, die wirklich und wahrhaftig streiten, einander gerade nicht verstehen. Hier prallen grundverschiedene Seinsweisen, gar Weltbilder aufeinander. Zu streiten heißt somit im Kern dies: dass man seine persönliche Perspektive gegen eine andere stellt. Um zu streiten, muss man jemandem ins Gesicht sagen können: „Ich habe recht und du nicht.“ Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Streit bedeutet nicht einfach drohendes Chaos und Zerfall

Weshalb gehen sich ausgerechnet Menschen, die sich nah sind, verbal derart schnell an die Gurgel? Antworten finden sich in Georg Simmels Abhandlung „Der Streit“ aus dem Jahr 1908. Streit, so lautet Simmels zentrale These, bedeutet nicht einfach drohendes Chaos und Zerfall, sondern ist gerade umgekehrt eine „Vergesellschaftungsform“. Und: Kämpfe machen das Zusammenleben dynamisch, bewahren jede Ordnung vor tödlicher Erstarrung. Das gilt auch und gerade für Liebesbeziehungen.

Der Streit ist dabei eben nicht nur ein lästiges Übel, das man sich in festen Bindungen leider einkauft. Vielmehr kann er gerade ein Zeichen dafür sein, dass diese Bindungen wahre Substanz haben. „Die stärkste Liebe kann am ehesten einen Stoß aushalten“, schlussfolgert Georg Simmel, während „in geringeren Gefühlstiefen verwurzelnde“ Beziehungen fortwährend Harmonie brauchen, um sich über das Fehlen fester, emotionaler Verankerung hinwegzutäuschen. Dabei entgeht Simmel natürlich nicht, dass aus einem „Stoß“ sehr schnell ein ultimativer Vernichtungsschlag werden kann.

Manchmal geht es beim Streit um die Differenz von Morden und Messen

Menschen können sich im Modus der Feindschaft streiten. Oder aber sie streiten als Gegner. Feinden und Gegner ist gemeinsam, dass sie siegen wollen: Beide schenken sich nichts. Gewinnen kann nur einer. Während aber ein Feind vernichtet werden muss, gilt es einen Gegner zu schlagen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Svenja Flasspöhler fügt hinzu: „Im Kern, so könnte man sagen, handelt es sich bei Feindschaft und Gegnerschaft um die Differenz von Morden und Messen.“

In jedem Streit, der diesen Namen verdient, gilt es Worte zu finden, die, auch wenn sie klar und hart sind, ein Weiter ermöglichen – oder diese Anstrengung zu unterlassen. Und manchmal sind getrennte Welten besser, als zwanghaft an der einen, geteilten, festzuhalten. Für Svenja Flasspöhler ist das Gehen keine Option, was sie meistens als innere Freiheit empfindet und hin und wieder schlicht als Erbe. Warum sie also streitet? „Um bleiben zu können. Denn nur wo wir dem Streit erlauben, bis an die Substanz eines Verhältnisses zu gehen, kann es sich beweisen.“

Streiten
Svenja Flasspöhler
Verlag: Hanser Berlin
Gebundene Ausgabe: 127 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-446-28004-5, 20,00 Euro

Von Hans Klumbies