Eigene Betroffenheit ermöglich Einfühlung

Svenja Flasspöhler stellt fest: „Menschen sind unterschiedlich in diese Welt gestellt. In manchen Fällen differieren die Perspektiven so sehr, dass wechselseitiges Verstehen unmöglich scheint. Man sieht einfach nicht dasselbe. Die Dinge stellen sich von den jeweiligen Positionen aus ganz und gar anders dar.“ Erst das Durchleben einer bestimmten Situation – oder anders gesagt: die eigene Betroffenheit – ermöglicht Einfühlung. Das die Grenze der Einfühlung durch mehr begründet sein könnte als nur durch Unlust und Faulheit – was keineswegs heißt, dass diese Faktoren nicht auch eine Rolle spielen – darauf weisen auch die hartgeführten Debatten über „kulturelle Aneignung“ hin. Mit diesem Begriff wird Kritik an dem Umstand geäußert, dass sich etwa Autoren, Übersetzer oder Filmschaffende mit einem Stoff beschäftigen, von dem sie aus eigener Erfahrung nichts wissen können. Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Erfahrungen und kulturelle Hintergründe sind verschieden

Und sich dann, so der Vorwurf weiter, an diesem Nichtwissen auch noch bereichern: Mit dem Leider anderer werde bares Geld gemacht, das eigentlich jene verdient hätten, die dieses Leiden von innen kennen. David Hume dagegen geht davon aus, dass Menschen qua ihres Menschseins, mit anderen mitfühlen können. Svenja Flasspöhler ergänzt: „Natürlich sind wir alle Menschen. Aber unsere Erfahrungen und auch unsere kulturellen Hintergründe sind verschieden.“

Wer diese Verschiedenheit übergeht, projiziert seine eigene Erfahrungswelt nachgerade narzisstisch auf alle – und wiederholt damit die Kolonialgeschichte. Zum anderen wäre zu fragen, in welchem Verhältnis das Mitfühlen, das David Hume beschreibt, zu einem Einfühlen in einem starken Sinne steht. Svenja Flasspöhler erklärt: „Wenn Hume von Mitfühlen spricht, dann meint er eine Gefühlsansteckung zwischen einander ähnlichen Wesen, die sich im anderen jeweils wiedererkennen und deshalb traurig werden, wenn sie jemanden sehen, der traurig ist.“

Es gibt Grenzen der Einfühlung

Einfühlung im starken Sinn aber meint mehr: Ich sehe die Welt mit den Augen eines anderen. Geht das überhaupt? Natürlich, ist man geneigt zu sagen. Immerhin fühlen sich nicht nur Schauspieler in ihre Rollen, sondern auch Schriftsteller in ihre Figuren ein. „Ich tue mich schwer, die Debatte auch nur ernst zu nehmen“, meint entsprechend der Schriftsteller Bernhard Schlink mit Blick auf die Diskussion über „kulturelle Aneignung“. Natürlich, räumt der Autor des Weltbestsellers „Der Vorleser“ ein, gelingt die schriftstellerische Einfühlung nicht leicht.

So weit so einleuchtend. Svenja Flasspöhler betont: „Doch soll hier der Versuch unternommen werden herauszufinden, ob nicht doch eine Wahrheit – und wenn ja, welche – in der Sicht jener steckt, die auf Grenzen der Einfühlung hinweisen.“ Unschätzbar wertvoll sind solche Literaturen, die den Horizont erweitern und neue Perspektiven eröffnen. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein erkenntnistheoretisches, ja ontologisches Problem: Denn so sehr man sich bemüht, eine andere Perspektive einzunehmen, kann man eben doch nie der andere sein. Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flasspöhler

Von Hans Klumbies