So ist es dem Aufklärer Immanuel Kant zufolge gerade die Freiheit, die einen Menschen zur Moral befähigt. Sich souverän über seine Neigungen erhebend gehorcht der Mensch einzig und allein der Vernunft, die den Grundsatz allen moralischen Handelns in Form des kategorischen Imperativs bereits in sich trägt: „Handle nur nach derjenige Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Nur wer diesem Vernunftbefehl aus reiner Pflicht Folge leistet, handelt moralisch; agiert ein Mensch aus Neigung und folgt dabei zufällig einer verallgemeinerbaren Maxime, hat dies mit moral nichts zu tun. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Dieses Kantische Moralverständnis bringt nun naturgemäß auch einen vollkommen anderen Begriff des Bösen mit sich. Wenn wir nämlich keine Sklaven unserer Natur sind, sind wir notwendigerweise auch frei, uns für das Böse zu entscheiden.“ Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.
Ein böser Mensch wählt bewusst eine böse Maxime
Tatsächlich ist es für Immanuel Kant gerade die Freiheit zum Bösen, die eine Handlung überhaupt erst als böse qualifiziert: „Man nennt (…) einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen“ – so heißt es im Immanuel Kants Abhandlung „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten: oder über das radikal Böse in der menschlichen Natur.
Der böse Mensch agiert nicht seine Lust aus, sondern wählt bewusst eine böse Maxime – eine Schlussfolgerung, die Immanuel Kant als Apologet des Guten in arge Bedrängnis gebracht hat. Immanuel Kants Zeitgenosse und düsterer Widerpart war der Gotteslästerer, Republikaner und Pornograph Marquis de Sade. In seinem Pariser Kerker dachte er zu Ende, was der Pflichtethiker in Königsberg sich nicht zu denken traute: Nämlich ein Böses, das gewählt wird, gerade weil die Vernunft es gebietet.
Faszination und Abscheu liegen bei realen Verbrechen eng beieinander
Der wahrhaft Böse handelt apathisch, seine Tat ist genau überlegt, streng choreographiert und konsequent durchgeführt. Diese an Übermenschentum grenzende Coolness ist es, die Menschen an Massenmördern wie Anders Breivik in höchsten Maße schockiert, während sie an Kinohelden durchaus fasziniert. Im Kinosessel genießt man das erhabene Böse. Ja, möglicherweise liegen Faszination und Abscheu selbst angesichts realer Verbrechen viel näher beieinander, als sich manch einer eingestehen möchte.
So zeitgemäß die Freiheit zum Bösen heute noch zu sein scheint: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete sich ein so ungeheuerliches, jede Vorstellbarkeit übersteigendes Verbrechen, das die althergebrachten Konzepte es nicht mehr erklären konnten. Hannah Arendt behauptete 1951 in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge der Herrschaft“, die Shoah sie radikal böse im kantischen Sinne gewesen. Ihr Argument lautete, dass sich die Ermordung von sechs Millionen Juden kaum durch Neid oder Missgunst oder Habgier angemessen erklären lasse, sondern einzig durch die vollkommen motivationslose Freiheit des Menschen, Böses zu tun. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler
Von Hans Klumbies