Die Pflicht des Vergebens gilt nicht für das Böse

Die Philosophin Hannah Arendt vertritt die Meinung, verstimmte Verbrechen von der Möglichkeit des Verzeihens auszuschließen: „Zweifellos bildet die Einsicht >Denn sie wissen nicht, was sie tun< den eigentlichen Grund dafür, dass Menschen einander vergeben sollen; aber gerade darum gilt auch diese Pflicht des Vergebens nicht für das Böse, von dem der Mensch im Vorhinein weiß, und sie bezieht sich keineswegs auf den Verbrecher.“ Während für den französischen Philosophen Jacques Derrida nur das Unverzeihbare Gegenstand des Verzeihens ist, zieht Hannah Arendt genau den entgegengesetzten Schluss: Das Unverzeihliche mag rufen, so viel es will – verziehen wird es nicht. Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Damit bleibt Arendts Begriff des Verzeihens innerhalb der Grenzen der Rationalität: Was jenseits der Grenzen liegt, ist nicht mehr verzeihbar.“ Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Vladimir Jankélévitch unterscheidet zwischen Verzeihbarem und Unverzeihbarem

Ähnlich wie Hannah Arendt argumentiert auch der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch in seinem Essay „Verzeihen?“. Die Schuld der Deutschen, meint er mit Blick auf den Massenmord im Dritten Reich an den Juden, verjähre niemals, sie währe ewig, bohre sich wie ein Stachel durch die Zeit, die demnach keineswegs alle Wunden heilt – denn das Verbrechen der Nationalsozialisten war nicht irgendein Verbrechen, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit schlechthin. Für Vladimir Jankélévitch kann die deutsche Schuld nicht „abgebüßt werden“.

Dies umso weniger, als die Deutschen nie um Verzeihung gebeten hätten, wie Vladimir Jankélévitch 1971 schrieb. Er fügt hinzu: „Es ist die Verlorenheit, und es ist die Verlassenheit des Schuldigen, die allein der Verzeihung einen Sinn und eine Existenzberechtigung geben würden. Wenn der Schuldige fett und gut genährt ist, prosperierend und reich gemacht durch das Wirtschaftswunder, ist die Verzeihung ein unheimlicher Scherz.“ Wie Hannah Arendt unterscheidet auch Vladimir Jankélévitch zwischen Verzeihbarem und Unverzeihbarem.

Wahres Verzeihen kann sich nur in Bezug auf Unverzeihbares ereignen

Überdies macht Vladimir Jankélévitch die Reue des Beschuldigten zur Bedingung, damit überhaupt über die Möglichkeit des Verzeihens nachgedacht werden kann; eine Voraussetzung, die bei näheren Hinsehen für Svenja Flaßpöhler nicht unproblematisch ist: „Denn: Wann ist Reue, wann ist Solidarität mit den Opfern aufrichtig? Reicht es schon, Bedauern zu bekunden, um Vergebung zu erlangen?“ Doch es gibt noch einen weiteren Einwand gegen jenes Verständnis des Verzeihens, wie Vladimir Jankélévitch und Hannah Arendt es in ihren Schriften entwickeln.

Welchen Sinn ergäbe es, angesichts einer Tat, die wir für verzeihlich halten, auf Rache oder Wiedergutmachung zu verzichten. Angesichts von Verzeihlichem spielt Rache überhaupt keine Rolle. Wahres Verzeihen, meint deshalb Jacques Derrida, kann sich nur in Bezug auf Unverzeihbares ereignen – und dies auch nur dann, wenn es an keinerlei Bedingungen geknüpft ist: „Wenn ich sage: „Ich vergebe dir unter der Bedingung, dass du, indem due um Verzeihung bittest, dich also geändert hast und nicht mehr derselbe bis“, vergebe ich dann?“ Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies

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