Die Neandertaler stammen vom Homo erectus ab

Als die Zeichnungen in der Pasiega-Höhle vor mehr als 64.000 Jahren entstanden, waren große Teile Europas vergletschert. Die Eiszeit steuerte auf neue Kälterekorde zu. Nordspanien war damals ein Land der Steppen und Wälder, wie man sie heute in Sibirien vorfindet. Ganz Nordeuropa und die Alpen waren unter Eisschilden verschwunden. Stefan Klein erzählt: „Wo die Gletscher nicht vorgedrungen waren, jagten Neandertaler Bisons und Mammuts. Sie hatten sich dem arktischen Klima angepasst, beherrschten die Kunst Feuer zu schlagen und nähten sich aus gegerbten Tierfellen Kleidung.“ Europa war schon seit unvorstellbaren Zeiten ihr Kontinent. Die Neandertaler stammten von Gruppen des Homo erectus ab, die vor mehr als einer halben Million Jahren aus Afrika ausgezogen waren. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

Schon die Neandertaler waren Künstler

Die nächste große Einwanderungswelle, in der Homo sapiens den Kontinent besiedelten, sollte erst 10.000 Jahre nach der Bemalung der Pasiega-Höhle beginnen. Schon die Neandertaler waren also Künstler, denn sie verfügten über geistige Fähigkeiten, die man eigentlich einzig den Homo sapiens zutraute. Und nicht nur in Kantabrien betätigten sich die Neandertaler als Künstler. In Zentralspanien und Andalusien entdeckte man ebenfalls Linien und Handabdrücke, die ebenfalls mindestens 65.000 Jahre alt sind.

Stefan Klein stellt fest: „Die Fundstätten liegen Hunderte Kilometer voneinander entfernt. Offenbar pflegten die Neandertaler in ganz Spanien zu zeichnen.“ An der spanischen Mittelmeerküste entdeckte der portugiesische Archäologe João Zilhão noch weit ältere Artefakte. Er untersuchte Muschen, die er im Jahr 2008 teils in einer Höhle ausgrub, teils als Fundstücke in einem Museum aufspürte. Jemand hatte die Spitze eines Stocks mit Sand benetzt und geduldig gedreht. Vielleicht um die perforierten Muscheln als Schmuckstück aufzufädeln.

Das Kunsthandwerk ging der Kunst der Höhlenmalerei lange voraus

Andere Muscheln waren bemalt. Als der Physiker Dirk Hoffmann die Funde analysierte, kam er zu dem Schluss, dass die Bearbeitungen mindestens 115.000 Jahre alt waren. „Das Ergebnis war für uns alle ein Schock“, erzählte João Zilhão. Denn damit waren die spanischen Muscheln die ersten bekannten Schmuckstücke überhaupt. Schon früh fertigten die Neandertaler Dinge an, die sie zum Überleben nicht brauchten. Ihr Kunsthandwerk ging also der Kunst der Höhlenmalerei lange voraus.

Stefan Klein weiß: „Der älteste von Homo sapiens bekannte Schmuck war erst 40.000 nach João Zilhão Fundstücken entstanden. Es handelt sich um ebenfalls durchbohrte und mit Rötel gefärbte Schneckenhäuser.“ Diese entdeckte man zusammen mit regelmäßig eingeritzten Ockerstücken im Jahr 2005 in der südafrikanischen Blombos-Höhle. Wenn Neandertaler auf der Nordhalbkugel der Erde und Homo sapiens am Kap der Guten Hoffnung dasselbe taten, war das sicher kein Zufall. Quelle: „Wie wir die Welt verändern“ von Stefan Klein

Von Hans Klumbies