Mit dem Wert von eigenständigem Denken ist unmittelbar das Prinzip der Wahrheit verbunden. Die Wahrheit steht in einem engen Zusammenhang mit der Wahrhaftigkeit einer Person, zumal wenn diese ihre Treue gelobt. Silvio Vietta erläutert: „Wahrhaftigkeit ist eine Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet.“ Umgangssprachlich benutzt man den Begriff „wahr“ im Sinne einer Aussage in Bezug auf einen Sachverhalt. Man erwartet von wahren Sätzen, dass sie dem Sachverhalt entsprechen. Wer diese Erwartung bewusst täuscht, der lügt. Und mit Lügen kann man Menschen sogar in den Tod treiben. Schon in der frühgriechischen Philosophie taucht schon der Gegensatz zwischen „Schein und „wahrem Sein“ auf. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Die Wahrheit gibt sich nicht auf den ersten Blick preis
Die Philosophen im antiken Griechenland unterschieden zwischen bloßer Meinung und dem wahren Wissen über den Sachverhalt selbst. Dieses wahre Wissen – die Wahrheit – zeigt sich aber dem Menschen nicht auf den ersten Blick. Die Sinne täuschen vielmehr den Menschen oft in Bezug auf die Wahrheit einer Sache. Der Theoretiker der Atome, Demokrit, hält daher die Sinne – „Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast“ – allesamt für trügerisch. Dies trifft jedenfalls in Bezug auf die Wahrheitserkenntnis zu.
Daher muss der Mensch überhaupt erst erkennen lernen, dass er von der Wirklichkeit entfernt ist. Zu den Grundeinsichten der abendländischen Philosophie gehört seit den Griechen die Einsicht: dass die Wahrheit sich nicht auf den ersten Blick gleich preisgibt, dass man sie vielmehr suchen und dabei mehr sein Denken gebrauchen muss als die oberflächlichen Sinne. Die antiken Philosophen wie die neuzeitlichen Wissenschaftler der europäischen Kultur vertreten einen ganz neuen Wahrheitsanspruch.
Die Wissenschaft stellt den katholischen Glauben infrage
Dieser neue Wahrheitsanspruch ist mit dem Prinzip des eigenständigen Denkens verbunden. Er hebelt in der europäischen Kulturgeschichte den religiösen Wahrheitsanspruch aus. Das ist zunächst der Mythos, im Europa der Neuzeit dann der katholische Glauben, dessen Wahrheit das rationale Wissen in Frage stellt und relativiert. Das geschieht unter schweren politischen Kämpfen. Doch es geht auch um eine neue revolutionäre Macht der Wissenschaft gegen die katholische Kirche.
Der Dreißigjährige Krieg spiegelt diese Machtkämpfe. Ein neuer Wert war mit dem eigenständigen Denken im europäischen Wertsystem aufgetaucht. Und der verwandelte das politische wie soziale Leben Europas. Heute zählt nur noch der Wert der Wahrheit des eigenständigen Denkens in der Form der Wissenschaft. Nur auf der Grundlage der Erkenntnisse der Wissenschaften konnten jene Technologien entwickelt werden, die heute das gesamte Leben der Menschheit verändert haben. Silvio Vietta zählt dazu die Elektrizitätslehre, die Chemie und die Atomphysik. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta
Von Hans Klumbies