Selbst denken kann gefährlich sein

In Kulturen, die von Traditionen geleitet werden, ist der Einzelne nicht aufgerufen, die gegebenen Lebensformen zu hinterfragen. Sondern er ist aufgefordert, sie zu erfüllen. Diese in Frage zu stellen, könnte sogar ausgesprochen gefährlich sein. Silvio Vietta erläutert: „Auch in der europäischen Kultur sind Fragende oft aus dem Lande gejagt, ins Gefängnis gesperrt, verbrannt worden. Nicht nur im Mittelalter, auch in den totalitären Phasen der Neuzeit.“ Noch tiefer als eine Frage setzt der Zweifel vorgegebene Formen des Denkens auf den Prüfstand. „Etwas bezweifeln“ heißt deren Richtigkeit in Frage zu stellen. Das ruft wiederum das Denken als eigenverantwortliches Prüfen von Sachverhalten auf den Plan. Vor allem die mittelalterliche Kirche hielt den Zweifel für etwas Gefährliches. Wer an Gott zweifelte, konnte schnell auf dem Scheiterhaufen landen. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

René Descartes möchte alles von Grund auf umstoßen

Aber die Kultur der Rationalität fördert den Zweifel. Das neuzeitliche Denken eines René Descartes beginnt geradezu mit einem universalen Zweifel. Er zweifelt an allen ihm vorgegebenen Wissensbeständen: „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen. Und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut habe.“ Dieser Meister des Denkens der Neuzeit leitet aus diesem Universalzweifel das Programm ab: „Einmal im Leben alles von Grund aus umzustoßen.“

René Descartes fordert daher vom wahren Denken, dass es „von den ersten Grundlagen an neu beginnen muss.“ Nur so kann es „für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen.“ Dieses absolut sichere Fundament ist für den französischen Philosophen das eigene Denken des Menschen. Es liefert seiner Meinung nach dem Menschen sogar den einzig sicheren Beweis seiner eigenen Existenz als Mensch: „Ich denke, also bin ich“, wie er das im „Discours de la méthode“ formuliert. Das ist allerdings nur sicher, solange das ich denkt.

Der Mensch ist kein Sklave seiner Gehirnfunktionen

Zu den wichtigsten Einsichten der europäischen Philosophie, vor allem im Zeitalter der Aufklärung und dem Deutschen Idealismus, gehört die Einsicht in die Produktivität des menschlichen Denkens. Bis in die Aufklärung hinein war die Vorstellung, wie die Wirklichkeit sich im Denken spiegelt, geprägt von dem Begriff der Nachahmung. Silvio Vietta erklärt: „Man nahm an, die Dinge außer uns prägen sich in unserem Bewusstsein ein wie in einer Wachstafel (Platon). Oder sie schreiben sich in es ein wie auf einem „white sheet of paper“ (Locke).

In der Aufklärung aber entdeckte man folgendes. Dass das Denken selbst ein Akt Produktivität des menschlichen Geistes ist. In dessen Verlauf produzieren die Menschen selbst die Objekte des Denkens. Dabei handelt es sich um die gedanklichen Operationen wie den Schluss von den Ursachen auf ihre Folgen. Dies alles geschieht in ihrem Gehirn. Dabei behaupten neuerdings Gehirnforscher, „das Gehirn denkt nicht“. Ihrer Meinung nach reagiert es einfach primitiv auf Nervenreize. Silvio Vietta widerspricht: „Unseren Handlungen gehen zwar immer auch Operationen im Gehirn voraus. Das heißt aber nicht, dass wir die Sklaven dieser Gehirnfunktionen sind.“ Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta

Von Hans Klumbies

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