Das, was die europäische Kultur am nachhaltigsten von allen anderen Weltkulturen unterscheidet, ist der hohe Wert, den sie von ihren frühen Anfängen in der griechischen Antike auf das eigenständige Denken legte. Silvio Vietta erläutert: „Das eigenständige Denken ist eines der höchsten Werte der abendländischen Kulturgeschichte und zugleich Ursprung und Grund einer ganzen Kultur des Abendlandes: der Kultur der Rationalität.“ Die Aufforderung zum eigenständigen Denken findet sich bereits formuliert in dem Gebot „Erkenne dich selbst“, das über dem Eingang des Apollotempels in Delphi eingemeißelt war und dem Weltweisen Chilon von Sparta zugeschrieben wird. Der Spruch, der den Menschen auch an seine Endlichkeit und Sterblichkeit mahnen soll, bekundet den Anfang des philosophischen Denkens im frühen Griechenland bei den vorsokratischen Philosophen. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Der Mensch sollte sich seines eigenen Verstandes bedienen
Einer der Vorsokratiker, Heraklit, hatte in einem Fragment gelehrt: „Den Menschen ist allein zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und zu denken.“ Die antike Definition des Menschen, wie von Aristoteles formuliert, bestimmt ihn geradezu als ein „denkendes Lebewesen“. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant leitet aus der Denkanlage die Forderung der Aufklärung ab: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und er macht daraus das Programm einer ganzen Epoche.
Immanuel Kant schreibt: Der Mensch solle sich aus der „Unmündigkeit“ befreien, zumindest in der Form der öffentlichen Meinung, wie er sein Programm auch wieder einschränkt. Am Leitprinzip des Selbstdenkens hängt eine ganze Wertfamilie: Die damit aufgetragene Suche nach Wahrheit mit Hilfe des menschlichen Erkenntnisapparates, die Fähigkeit zum kritischen Denken will sagen: zur Unterscheidung von wahr und falsch nach Maßgabe des eigenen Denkens, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung des eigenständigen Lebens und der Politik.
Politische Freiheit ermöglicht eigenständiges Denken
Dazu kommt das Vermögen zur Freiheit als Entbindung von der Unmündigkeit wie auch die damit verbundene Forderung nach politischer Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von eigenständigem Denken, selbstständigem Handeln und eigenverantwortlichem Leben. Silvio Vietta ergänzt: „Die Selbstfindung des Menschen in seiner Individualität, Subjektivität, Personalität ist an das Selbstdenken als deren Bedingung rückgebunden, das politische System der Demokratie an die Selbstbestimmung der selbstbewussten Bürger und damit gegeben auch die Rechtsstaatlichkeit und Wehrhaftigkeit zu deren Sicherung und Verteidigung.“
Das abendländische Prinzip des Selbstdenkens ist in diesem Sinne die systematische Grundlage einer ganzen Kette von Werten, deren Geltung ihrerseits Lebens- und Handlungsformen bedingten und ermöglichten, zudem politische Strukturen ebenso wie Institutionen der Bildung und Erziehung ins Leben riefen. Das System der Kultur der Rationalität und ihr Leitprinzip des eigenständigen Denkens ist das wichtigste Charakteristikum der abendländischen Kultur. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta
Von Hans Klumbies