Das eigenständige Denken hat seinen Ursprung in Griechenland, zumindest in der Form eines eigenen Leitprinzips. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Völker und Epochen vor den Griechen nicht auch eigenständig gedacht hätten. Silvio Vietta erläutert: „Sie haben anders gedacht. Das Denken vor der Revolution der Rationalität war mythisch geprägt. Das Denken erklärte die Welt aus mythischen Mächten der Götter oder eines Gottes.“ Die griechische vorsokratische Philosophie dagegen definiert die Welt aus erkennbaren irdischen Ursachen und Kräften wie Wasser (Thales von Milet), Luft (Anaximenes), Feuer (Heraklit), dem Sein (Parmenides), Atomen (Demokrit). Zudem war das Wissen um Götter, Menschen und Welt nicht für die Masse der Menschen bestimmt, sondern nur für einen ausgewählten Kreis von Priestern und Herrschern. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Eigenes Denken ist mit dem Tode bedroht worden
Es handelte sich dabei praktisch um ein Geheimwissen, in das nur wenige eingeweiht waren. Mit dem Auftrag an den Menschen, seinen eigenen Verstand zu gebrauche, wird das Wissen öffentlich, der Wissende – Philosophen, Wissenschaftler – eine öffentliche Figur. Die Athener Philosophen Anaxagoras und Sokrates verbreiteten ihr Wissen auf den Märkten von Athen. Das war allerdings auch gefährlich. Der eine musste vor seinen Verfolgern aus Athen fliehen, der andere hat seine Lehre der Aufklärung wegen der Verleugnung Gottes mit dem Giftbecher bezahlen müssen.
Silvio Vietta weist auf einen traurigen Umstand hin: „Die ganze abendländische Geschichte hindurch ist eigenes Denken auch mit dem Tode bedroht gewesen. Das gilt insbesondere für das eigenständige Denken im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, als die christliche Wertekultur noch über die Rationalität dominierte und bereits brüchig wurde.“ Ein Giordano Bruno wurde für seine Lehre von der Unendlichkeit des Universums im Jahre 1600 von der Inquisition öffentlich verbrannt, ein Galilei entkam solcher Tortur durch den Widerruf seiner Lehre von den Planeten gegen sein besseres Wissen.
Die Frage und der Zweifel sind grundlegend für das eigenständige Denken
Der deutsche Philosoph Martin Heidegger stellte in einer Vorlesung aus dem Jahr 1951/52 eine provokante These auf: „Das Bedenklichste an unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken.“ Martin Heidegger hat hier nicht die neuen Medien oder andere das Denken hemmende Instanzen gemeint, sondern nichts Geringeres als die Wissenschaft in ihrer besten Ausprägung. Nach Martin Heidegger gilt: „Die Wissenschaft denkt nicht.“ Jedenfalls nicht im Sinne seiner Seinsphilosophie.
Mit dem Wert des eigenständigen Denkens verbindet sich von den griechischen Anfängen an eine neue Kultur des Fragens, In-Frage-Stellens, Hinterfragens von Sachverhalten, die man für gegeben hielt. Es verbindet sich damit der Auftrag zum Selbstprüfen, was wiederum eine Form des Zweifels an gegebenen Erklärungen voraussetzt. Die Frage und der Zweifel werden damit zu den Motoren des eigenständigen Denkens. Platons Sokrates zum Beispiel stellt seinen Gesprächspartnern Fragen über Fragen, allerdings raffinierte, die zunächst einmal die Funktion haben, das für sicher geglaubte Wissen des Bürgers, mit dem er jeweils diskutiert, in Frage zu stellen und damit sein eigenes Denken bei der vertieften Lösung eines Problems anzustoßen. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta
Von Hans Klumbies