Nur durch die Kultur lässt sich das Dasein ertragen

Der amerikanische Psychologe Sheldon Solomon hat sich fast sein ganzes Berufsleben lang mit der Angst vor dem Tod beschäftigt. Er hat erforscht, wie die Furcht vor dem Tod das menschliche Leben bestimmt. Das Großhirn erlaubt es den Menschen, abstrakt und symbolisch zu denken, aber zugleich ist es auch fähig zu begreifen, dass das Leben der Menschen endlich ist, wie dasjenige aller Lebewesen. Das erzeugt einen tiefen, lähmenden Schrecken. Jeder muss damit leben. Wie das gelingen kann, hat der Kulturanthropologe Ernest Becker beschrieben: „Um die Last des Daseins ertragen zu können, verankern wir uns in einem Glaubenssystem, das wir Kultur nennen. Kultur gibt unserem Leben einen Sinn, sie gibt uns einen Wert – und zwar, indem sie uns eine Vision von Unsterblichkeit liefert.“

Durch die Gefährdung kultureller Werte wird die Todesfurcht aktiviert

Entweder gibt die Kultur den Menschen Hoffnung auf echte, buchstäbliche Unsterblichkeit, in Form des Himmels, der Seele oder der Wiedergeburt. Oder sie lässt die Menschen glauben, dass sie in übertragenem Sinne über den Tod hinaus fortbestehen, in Gestalt der Kinder, der Werke oder des Vermögens, das man im Laufe seines Lebens angehäuft hat. Allerdings ist kein Glaubenssystem stark genug, um einem die Todesangst in Gänze nehmen zu können. Über die Todesfurcht grübeln Denker schon seit Jahrhunderten.

Die Angst vor dem Tod spielt bereits in der Bibel und im Gilgamesch-Epos eine Schlüsselrolle. Denn das Bewusstsein der Sterblichkeit ist der psychodynamische Dreh- und Angelpunkt des ganzen menschlichen Verhaltens. Entsprechend gibt es wahrlich keinen Mangel an Denkansätzen von Philosophen, Künstlern, Theologen. Nur die Psychologen haben immer einen Bogen um das Thema gemacht. Sheldon Solomon erklärt: „Unsere Forschung zeigt: Wenn die kulturellen Werte, mit denen wir uns identifizieren, gefährdet sind, dann aktiviert das unsere Todesfurcht – auch ohne dass wir uns dessen bewusst sind.“

Sex und Tod sind Zwillinge

Die Erinnerung an die Sterblichkeit verstärkt den Glauben, und zwar im Guten ebenso wie im Schlechten. In den Forschungsergebnissen von Sheldon Solomon zeigte sich zum Beispiel, dass Menschen, die sich als konservativ einschätzen, ablehnender gegenüber Andersdenkenden werden, wenn man ihre Todesangst weckt. Liberale Menschen dagegen werden toleranter. Auch macht die Todesfurcht Menschen generell großzügiger und eher bereit, für wohltätige Zwecke zu spenden. Trotzdem ist Sheldon Solomon davon überzeugt, dass die negativen Effekte der Todesfurcht überwiegen.

Der Psychologe erklärt: „Todesfurcht schürt unseren Hass gegen Menschen, die anders sind als wir. Sie verwandelt uns in gedankenlose Konsumenten, die mehr essen, mehr trinken und mehr rauchen. Und sie löst in uns Unbehagen gegenüber unserem Körper aus, vor allem gegen alles Sexuelle.“ Ernest Becker sagte: „Sex und Tod sind Zwillinge.“ Denn Sex hat etwas Animalisches. Er erinnert die Menschen daran, dass sie Tiere sind. Und Tiere sterben. Also schärft der Sex das Bewusstsein, dass man selbst auch sterblich ist. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies