Seneca philosophiert über die Vorzüge des Alters

Seneca fordert die Menschen auf, dem Alter eine ihm gebührende Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken. Denn wer das Alter verständig nutzt, dem bietet es eine Fülle an Genuss. Wie die meisten wissen, schmecken überreife Früchte am besten. Auch die Kindheit übt ihren stärksten Reiz kurz vor ihrem Abschluss aus. Und der letzte, umwerfende Schluck, der der Rausch aufs höchste steigert, gibt dem echten Zecher ein unendliches Gefühl der Zufriedenheit. Seneca schreibt: „Jede Lust spart sich ihre höchste Wonne bis zum Ende auf. Und so ist das Alter dann am angenehmsten, wenn es schon zur Neige geht, aber noch nicht jäh abstürzt.“

Jeder Tag ist eine Stufe des Lebens

Für Seneca hat das Alter sogar auf der letzten Stufe seine Annehmlichkeiten. Möglicherweise tritt hier die Bedürfnislosigkeit an die Stelle der Genüsse. Wie wohltuend kann es doch sein, wenn man die eigenen Begierden hinter sich lassen kann. Es bedrückt Seneca nicht, den Tod im Alter so unmittelbar vor Augen zu haben. Denn Greis und Jüngling müssen ihn gleichermaßen vor Augen haben, denn der Abruf erfolgt nicht nach Klassen des Alters. Und außerdem ist laut Seneca niemand so alt, dass es dreist von ihm wäre, nicht wenigstens noch auf einen Lebenstag zu hoffen.

Seneca spürt in jedem einzelnen Tag eine Stufe des Lebens. Denn das Leben der Menschen setzt sich aus Einzelabschnitten zusammen, schließt sich in immer größeren Kreisen um die jeweils kleineren, bis ein letzter alle übrigen umfasst und umrundet, vom Tag der Geburt sich ausdehnend bis zum Todestag. Ein Kreis umschließt beispielsweise die Jugendzeit, ein anderer die ganze Kindheit. Eine Besonderheit ist laut Seneca der Jahreskreis, der alle Zeiteinheiten enthält, aus deren Wiederkehr sich das Leben zusammensetzt.

Ein Leben unter Zwängen ist ein Übel

„Darum sollte man jeden Tag so einrichten, als ob er den Reigen abschlösse und unser Leben vollende“, rät Seneca. Die Menschen sollen mit gutem Gewissen jeden Tag, bevor sie Schlafen gehen, fröhlich und heiter sagen: „Ja, ich habe gelebt und den Lauf meines Schicksals vollendet.“ Wenn ihnen noch ein weiterer Tag gegeben ist, sollen sie ihn erfreut annehmen. Für Seneca ist derjenige der Allerglücklichste, der in sorgenfreiem Selbstbesitz den nächsten Morgen ohne Unruhe erwarten kann.

Wer im Alter sagen kann, dass er gelebt hat, beginnt laut Seneca jeden neuen Tag mit Gewinn. Es ist für ihn ein Übel, unter Zwang zu leben, doch unter Zwang weiterzuleben, besteht kein Zwang! Seneca erklärt: „Es stehen überall viele kurze, leicht gangbare Wege zur Freiheit offen.“ Er zitiert Epikur, der gesagt hat, dass die Menschen der Gottheit dankbar sein müssen, dass niemand im Leben zurückgehalten werden kann. Selbst die Not könnten die Menschen unter ihre Füße treten.

Von Hans Klumbies