Selbstfindung ist eine Illusion

Der Schlafende ist nicht nur ein Wesen, das seine Geschichtlichkeit verloren hat, das sich ins Unhistorische transzendiert, sondern der schlafende Mensch ist auch ein Wesen, das sein Ich verloren hat. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Im Schlaf können wir über uns keine Auskunft geben, im Schlaf können wir uns nicht zu uns selbst verhalten. Damit fehlt dem Schlafenden aber die Grundvoraussetzung, um überhaupt von einem Selbst sprechen zu können.“ Sören Kierkegaard hat das Selbst einmal folgendermaßen definiert: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“ Das Selbst ist eine ontologische Entität im Menschen, die gesucht werden könnte: Selbstfindung ist eine Illusion. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

Selbstverwirklichung ist ein falsches Versprechen

Das Selbst ist nichts, das wie eine Knospe im Menschen angelegt wäre und darauf wartet, entfaltet zu werden: Selbstverwirklichung ist ein falsches Versprechen. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Das Selbst ist immer in actu, das Selbst ist ein Verhältnis zu sich selbst. Die Gewissheit eines Selbst erfordert die Fähigkeit, sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzen zu können.“ Das kann aber nur im Wachzustand geschehen, nicht im Schlaf. Im Schlaf lässt sich kein Verhältnis zu sich selbst gestalten, im Schlaf hat der Mensch nicht nur die Welt, sondern auch sein Selbst verloren.

Unter dieser Perspektive erweist sich der Schlaf als radikaler Bruch des menschlichen Weltverhältnisses. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Wenn man Schlaf und Nacht parallelisiert und die große metaphorische Bedeutung von Nacht mitschwingen lässt, haben wir alles an Weltverlust, Selbstvergessenheit und Identitätsschwund im Bedeutungsfeld des Schlafes und der Nacht aufbewahrt.“ „Ich schlief, ich schlief!“ So kann nur ein Ich sprechen, das den Tiefen der Nacht und ihrer existenziellen Leerstellen schon entronnen ist.

Der Schlaf kehrt in die Welt der dunklen Götter zurück

„Der Schlaf“, schreibt Jean-Luc Nancy, „ist die Anerkennung der Nacht: Er grüßt sie und erweist ihr Ehre. Er lässt sich von ihr adoptieren. Er geht in ihr auf. Der Schlaf wird zur Nacht selbst. Er wird selber zur Rückkehr in die unvordenkliche Welt, in die Welt unterhalb der Welt, in die Welt der dunklen Götter, die kein schöpferisches Wort sprechen.“ Verglichen mit diesen düsteren Exkursen zur Weltlosigkeit des Schlafenden wirken Friedrich Nietzsches Thematisierungen des Schlafes manchmal geradezu heiter.

Kulturkritische, mitunter zynische Reflexionen des Schlafes im Kontext einer Gesellschaft, die Wachheit zu einer Ideologie erhoben hat, sind dabei unübersehbar. Der 376. Aphorismus aus „Morgenröthe“ trägt den Titel „Viel schlafen“. Friedrich Nietzsche greift in diesem ironisch ein Grundproblem des modernen Menschen auf: „Was thun, um sich anzuregen, wenn man müde und seiner selbst satt ist?“ Antworten darauf gibt es viele, und der Spott darüber ist bei Nietzsche deutlich spürbar: „Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Andere das Christentum, der Dritte die Electricität.“ Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies