Michel de Montaigne macht die überraschende Entdeckung, dass es dieses ruhige Selbst, das er als Zuflucht gesucht haben mochte, gar nicht gibt. Es fehlt also die Stabilität, man kann sich nicht an sich selbst festhalten. Und nicht nur das. Rüdiger Safranski ergänzt: „Man unterscheidet sich offenbar nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von sich selbst.“ Es kann sogar vorkommen, dass einem das eigene vergangene Ich fremder vorkommt als ein anderer Mensch, dem man gerade begegnet. Die Identität der Zeit ist kaum zu fassen, und was das Gegenwarts-Ich betrifft, so fehlt ihm ebenfalls die in sich stimmige Identität. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Die Tugend entspricht einer „verkleideten Eitelkeit“
Gewöhnlich macht sich diese Ambivalenz weniger geltend in der Welt das Handelns, wo man ja Entscheidungen trifft und Festlegungen vornimmt. Doch in der von Entscheidungszwängen entlasteten Sphäre der Betrachtung und Reflexion, im Möglichkeitsraum also, kann diese innere ambivalente Welt zu Labyrinth werden. In den Aufzeichnungen von Michel de Montaigne gibt es so manches Abwegige, gemessen an dem damals Üblichen. Abwegig fand man zum Beispiel, dass Montaigne von den Tieren sagte, manche stünden an Klugheit, Liebesfähigkeit und Treue höher als Menschen.
Auch dieser Äußerungen wegen wurden die „Essais“ im 17. Jahrhundert auf den Index gesetzt. Abwegig fand man seine Respektlosigkeit: „Selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Arsch.“ Rüdiger Safranski fügt hinzu: „Abwegig und sogar ketzerisch fand man den Gedanken, dass Gott uns zwar nach seinem Bilde geschaffen habe, wir aber bestrebt seien, uns einen Gott nach unserem Bilde zu schaffen.“ Abwegig fand man auch seine Kennzeichnung der Tugend als „verkleidete Eitelkeit“.
Kein Ding ist wie das andere
Rüdiger Safranski stellt fest: „Mit seinen lebensklugen Bemerkungen tritt Michel de Montaigne aus der Menge und behauptet sich als Einzelner. Doch er macht das Problem des Einzeln-Seins auch ausdrücklich zum Thema.“ Einzelheit hat für Montaigne eine prinzipielle Bedeutung. Wäre er ein systematischer Denker, würde er seine Gedanken und Beobachtungen mit dem Prinzip der Einzelheit verknüpfen und daraus ableiten. Dieses Prinzip ist für ihn tatsächlich universell.
Es bedeutet, dass die Welt zwar ein Ganzes sein mag, doch bestehend aus lauter Einzelheiten. Kein Ding ist wie das andere, sie sind zumindest im Blick auf die jeweilige Position im Raum oder der Zeit nach verschieden. Daraus ergibt sich eine Skepsis gegen die Allgemeinbegriffe, die in der geistigen Sphäre gebildet werden. Diese darf man allerdings nicht mit der Wirklichkeit, die immer konkret und einzeln ist, verwechseln. Natürlich gibt es Kausalität und Zusammenhang, aber eben nur zwischen den einzelnen Dingen. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski
Von Hans Klumbies