Es musste vieles zusammenkommen, damit es in Deutschland, ähnlich und doch ganz anders als in der Renaissance in Italien, zu jenem reformatorischen Umbruch kam, der ganz Europa verändern sollte. Neben den vielen Umständen, die ihm zuarbeiteten, war eine entscheidende Voraussetzung doch der Auftritt eines Einzelnen. Nämlich jenes Mönches Martin Luther aus Wittenberg, der Epoche machte, bloß weil er ein persönliches Verhältnis zu einem, nein, zu seinem Gott suchte. Rüdiger Safranski ergänzt: „Was zusammengekommen war: die Konflikte zwischen den erstarkenden Territorialstaaten und den universalen Traditionsmächten Papst und Kaisertum. Verweltlichung der Kirche, verschwenderische Hofhaltung der Kirchenfürsten.“ Zudem die Bestechlichkeit der Kurie, Veräußerlichung des Glaubens durch Reliquien- und Ablasshandel sowie die Bedrohung des Reiches von außen durch die Türken. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Bildung breitete sich aus
Hinter alledem sahen die Menschen apokalyptische Zeichen. Dazu kamen noch andere Herausforderungen durch das Unbekannte. Nämlich die Entdeckung der Neuen Welt und die Nachrichten über unbekannte Sitten, Gebräuche und Religionen, die von dort eintrafen. Moralische Verbindlichkeiten und Sinnordnungen wurden dadurch fragwürdig. Ungeheure Mengen von Gold aus der Neuen Welt überschwemmten das alte Europa, die Seefahrer brachten neue Krankheitskeime mit.
Rüdiger Safranski blickt zurück: „Epidemien und Furcht vor Dämonen breiteten sich aus. Hexen wurden verbrannt, während zugleich eine neue wissenschaftliche Neugier erwachts. Die Erfahrung erfuhr eine enorme Auswertung gegenüber bloß scholastischer Gelehrsamkeit.“ Mit der Erfindung des Buchdrucks entstand eine lesende Öffentlichkeit. Bildung breitete sich aus. Wachsender Geldverkehr und Lockerung der traditionellen ständischen Bindungen führten zu einer kulturellen Blüte in den Städten, die untereinander im Wettbewerb standen. Außerdem suchten sie sich gegen die jeweils übergeordneten Mächte zu behaupten.
Martin Luther entdeckt sein Selbst
Der individualistische Geist trat hervor. Es entstand damals auch in Deutschland eine gesellschaftlich-kulturelle Atmosphäre, in der, wie auch in Italien, das Gefühl für die Einzelheit des Einzelnen erwachen konnte. Und solches geschah bei Martin Luther, mit unabsehbaren Folgen. Rüdiger Safranski rekapituliert einige Stationen dieser Geschichte der Selbstentdeckung eines Einzelnen. Sie beginnt damit, dass er aus dem Schatten des Vaters heraustrat. Im Jahr 1605 promovierte der 22-Jährige in Erfurt zum Magister Artium.
Das Studium der Juristerei hielt Martin Luther nur wenige Wochen aus. Er wollte zur Theologie wechseln. Nicht weil der besonders fromm war, vielmehr trieb ihn zunächst eine philosophische Neigung an. Denn zu jener Zeit las er weniger in der Bibel als in Boethius´ philosophischer Erbauungsschrift „Der Trost der Philosophie“. Im Juni 1605 bat er den Rektor, von Erfurt zu Fuß nach Mansfeld hinüberwandern zu dürfen, um den Vater für den Studienwechsel zu gewinnen. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski
Von Hans Klumbies