Die Individualisierung schreitet voran

Von der Einzelheit her lassen sich Gesellschaftstypen unterscheiden. Nämlich je nachdem ob sie die Einzelheit begünstigen oder gar zum Gesellschaftszweck erheben oder sie eher hemmen. Es geht also nicht nur darum, wie viel Einzelheit der Mensch überhaupt will und erträgt. Sondern es geht auch darum, welche gesellschaftlichen Begünstigungen oder Beeinträchtigungen er dabei erfährt. Rüdiger Safranski stellt fest: „Vieles spricht dafür, dass es, vor allem in Westeuropa, eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Individualisierung gegeben hat und noch gibt.“ Zuletzt hat der Soziologe Andreas Reckwitz mit Blick auf die Spätmoderne von einer „Logik des Singulären“ gesprochen. Schon Norbert Elias hatte die Grundzüge dieser Entwicklung analysiert. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Jeder bleibt stets in der Gesellschaft erhalten

Auch Jacob Burckhardt hat das Phänomen der Individualisierung am Beispiel der italienischen Renaissance geschildert. Diese Epoche war der zweite große Durchbruch einer Individualkultur nach der griechischen Antike. Wenn der Einzelne auf sich selbst aufmerksam wird, neigt er dazu, sich der Gesellschaft insgesamt gegenübergestellt zu sehen. Es scheint dann, als handelte es sich um zwei Substanzen, hier drinnen das Ich, dort draußen die Gesellschaft und dazwischen das Spiel der Wechselwirkungen.

Norbert Elias hat auf die optische Täuschung hingewiesen, die diesem Modell zugrunde liegt. Rüdiger Safranski erklärt: „Wir stehen nämlich der Gesellschaft niemals einfach gegenüber, denn wir sind und bleiben stets in ihr erhalten, auch dann, wenn wir uns von ihr vermeintlich absetzen.“ Individualisierung ist selbst ein gesellschaftlicher Prozess. Sie steht nicht in einem Gegensatz zur Gesellschaft, sondern ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Differenzierung. Diese erlaubt es dem Einzelnen, sich für bedeutungsvoll zu halten.

In der Renaissance zeigt sich eine glanzvolle Ichbezogenheit

Das Ich, das sich in seiner vermeintlichen Unverwechselbarkeit der Gesellschaft entgegensetzt, unterliegt einer Selbsttäuschung. Es weigert sich einzusehen, dass „die Gesellschaft … nicht nur das Gleichmachende und Typisierende, sondern auch das Individualisierende (ist).“ Dadurch entsteht notwendigerweise ein Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Gesellschaftlichkeit, zwischen Ich und Wir. In neuerer Zeit neigt sich die Wir-Ich-Balance oft sehr stark nach der Seit des Ich.

In der Epoche der italienischen Renaissance, an der Schwelle zur Neuzeit, hatte sich diese starke Ichbezogenheit glanzvoll gezeigt. Jacob Burckhardt schildert die individualisierende Wende der Welt- und Selbstwahrnehmung. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse Oberitaliens befanden sich auf einer Entwicklungshöhe, die im restlichen Europa erst Generationen später erreicht wurde. Politisch gab es in Oberitalien keinen homogenen, von einer Zentralgewalt durchherrschten Raum. Weder das Heilige Römische Reich noch die päpstliche Universalkirche war stark genug, um den Aufstieg der Stadtstaaten, besonders den von Florenz, aufhalten zu können. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski

Von Hans Klumbies