Die Aufklärer geben dem Roman eine neue Bestimmung

Neben dem Drama war der Roman die zweite Gattung, die im 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte und mit der Entwicklung des neuen Selbstverständnisses im engen Zusammenhang steht. Ebenso wie das Drama war auch der Roman am Anfang des 18. Jahrhunderts eine verachtete und als minderwertig eingeschätzte Literaturform. Im Gegensatz zum Drama war der Roman jedoch noch nicht einmal als Gattung in der Poetik der damaligen Zeit anerkannt. Das Heldengedicht, das heißt das Epos, das sich auf antike Traditionen berief, galt als einzig legitime Form. Dennoch gab es in der damaligen Zeit eine Vielzahl von Romanen, die vom tradierten Epos abwichen und das Bedürfnis nach Unterhaltung zu befriedigen versuchten. Schwülstige Liebesromane, galante Schäferromane, verwirrende Abenteuerromane und zahlreiche Übersetzungen von spanischen, englischen und französischen Romanen fanden zwar ihre vor allem adlige Leser, von der zeitgenössischen Kritik wurden sie jedoch als „Lugen = Kram“ abgelehnt und mit moralischen Argumenten bekämpft.

Der bürgerliche Roman ersetzt den höfischen Roman

Auch literarisch anspruchsvolle Romane wie Grimmelshausens „Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ (1669), der in der Tradition von Cervantes` „Don Quijote“ stand, oder Schnabels „Insel Felsenburg“ (1731 – 43), die bedeutendste deutsche Robinsonade, die von Defoes „Robinson Crusoe (1719) beeinflusst war, fanden vor den gestrengen Augen der Kritiker keine Gnade. „Wer Roman list, list Lügen“ – so fassten die Zeitgenossen ihren Abscheu vor der neuen Gattung zusammen. Erst die Aufklärer erkannten die Möglichkeiten dieser neuen Literaturform.

Die Aufklärer versuchten, der bis dahin verachteten Form im Sinne von Nutzen und Vergnügen eine neue Bestimmung zu geben. Dies war nur möglich auf der Grundlage einer veränderten Romanpraxis. Der höfische Roman musste durch den bürgerlichen Roman ersetzt werden. Hierbei galten ganz ähnliche Forderungen wie für das bürgerliche Drama. An die Stelle des adligen Abenteurers oder galanten Liebhabers sollte der bürgerliche Held treten, der ähnlich dem „gemischten Charakter“ im bürgerlichen Drama mit psychologischer Wahrscheinlichkeit gestaltet werden sollte.

Die Literatur dient der Selbstfindung der Bürger

Die schwülstige, verwirrende Art des Erzählens im höfischen Roman sollte durch eine „natürliche Art zu erzählen“ ersetzt werden, die Romanschreiber sollten sich von den antiken und zeitgenössischen ausländischen Vorbildern lösen und alltägliche Probleme und Themen der eigenen Zeit und der eigenen Nation behandeln. Hier ging es darum, die Literatur in den Dienst des bürgerlichen Prozesses der Selbstfindung zu stellen. Wichtige Anregungen empfingen die deutschen Autoren dabei vor allem vom englischen und französischen Roman, der sich in diesen Ländern bereits auf einem hohen Niveau befand.

In kürzester Zeit gab es einen regelrechten Boom auf dem Sektor der Romanproduktion. Zwischen 1700 und 1770 erschienen 1.287 Romane, einschließlich der Übersetzungen, wobei der Anteil des neuen Romans an der Gesamtproduktion kontinuierlich, nach 1764 sogar stürmisch anstieg. Um 1770 hatte der neue bürgerliche Roman die anderen Romanformen vollständig verdrängt. Einen bedeutenden Anteil an diesem raschen Anstieg hatten die Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen – sie machten in manchen Jahren fast die Hälfte der Neuerscheinungen aus. Quelle: Deutsche Literaturgesichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies