Alles ist ein sprachliches Konstrukt

Eine neue Wirklichkeit verändert die Sprache. Kann umgekehrt die Sprache ebendiese Wirklichkeit, die sie abbildet, umgestalten? Verwandelt man tatsächlich die Welt, indem man die Dinge anders benennt und dann auch anders wahrnimmt? Roger de Weck antwortet: „Nicht nur in den Naturwissenschaften wirkt der Beobachter auf das Beobachtete ein. Überhaupt sei alles ein sprachliches Konstrukt, befand der Strukturalist Roland Barthes.“ Aber weder die Frauenmehrheit noch die benachteiligten Minderheiten werden die Gleichstellung allein dank der politisch korrekten Sprache schaffen. Sie ist mehr eine wertschätzende Etikette als eine Machtstrategie. Ist politische Korrektheit unpolitisch? Ein differenziertes Vokabular ist die gute Alternative zur Stimmlage von Wutbürgern wie zum lehrsamen Tonfall einiger Überkorrekter. Respektvoller Austausch mit ermutigten Zeitgenossen ist eine Voraussetzung liberaler Demokratie. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Die gerechte Sprache schafft keine Gerechtigkeit

Sie sollte möglichst alle einbeziehen. Dazu gehört „eine offene und vielfältige Sprache“, schreibt Robert Habeck, der Autor von „Wer wir sein könnten“ und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem bedarf es einer „Politik des Gehörtwerdens“, ergänzt sein Parteifreund, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Aber dann bedarf es handfester Maßnahmen. Die gerechteste Sprache schafft keine Gerechtigkeit, das kann nur eine tatkräftige Politik leisten.

Ob in der französischen Provinz, in deutschen Brachen oder im nordamerikanischen Rostgürtel: Die Abgehängten – die Verlierer des Wettlaufs um Erfolg und Aufmerksamkeit – kommen sich als die heutigen „subalternen Menschen“ vor. Viele wenden sich dann gegen die noch bedeutungsloseren Migranten. Roger de Weck stellt fest: „Diesem Rassismus ist die politische Korrektheit nicht gewachsen. Sie ist kein Ersatz für eine Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik zugunsten der bedrängten Mittel- und Unterschichten, bestenfalls ihre Ergänzung.“

Die Demokratie muss modernisiert werden

Wer die Korrektheit ideologisch überhöht, was ihre Befürworter wie ihre Gegner tun, lenkt überdies von der politischen Kernaufgabe ab. Nämlich der Modernisierung der liberalen Demokratie. Nur wenn eine gestärkte Demokratie die Machtwirtschaft abblockt, lässt sich die Gesellschaft wieder ins Lot bringen. Auch der Westen hat seine Oligarchen, nicht nur der Osten. Und sie lassen sich weder von moralischer Kritik an ihrem Gebaren noch von politische korrektem Feintuning beirren.

Diese Masters of the Universe verspielten in der Finanz- und Vertrauenskrise von 2008 sowohl ihre Glaubwürdigkeit als auch ihre kulturelle Hegemonie. Dennoch fahren sie mit ihren normal gewordenen Exzessen fort. Und das heißt banal: Sie haben die Macht. Der liberal-konservative ehemalige Bundespräsident Wolfgang Schäuble rügt die „usurpatorische Vormacht des Finanzmarktes“. Der langjährige, 2019 verstorbene US-Zentralbankvorsitzende Paul Volcker sieht in der ältesten Demokratie der Welt nun eine Plutokratie, die Vorherrschaft der Geldmächtigen. Ihr Protzen ist ein politisches Statement. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies