Die Konservativen sind in einer Sinnkrise

Die Kirche nennt ihre im Erwachsenenalter getauften Schäfchen Neophyten. Oft sind diese neuen Gläubigen Eiferer. Sie sind intolerant wie die Neokonservativen, die jetzt weltweit auftrumpfen. Und sie sind streng dogmatisch wie die Neoliberalen, die nach wie vor den Ton angeben. Roger de Weck stellt fest: „Das Präfix „neo“ ist hier zum Fingerzeig geworden, dass eine demokratische in eine sehr direktive bis autoritäre Grundhaltung umschlagen kann. Archaisches lässt sich sehr wohl in moderne Formen gießen.“ Die politische Familie der Liberalen ist ein buntes Allerlei. Sozialliberale wollen die soziale Not lindern, weil sie Unfreiheit bedeutet. Wirtschaftsliberale fordern jederzeit noch mehr Freiheit vom Staat. Liberalkonservative hängen an der bürgerlichen Freiheit. Die stets uneinigen Liberalen debattieren und streiten. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Die liberale Bürgerwelt bevorzugt das Mittlere

Dagegen hat für neoliberale Doktrinäre der Markt das letzte Wort, fast unfehlbar wie der Papst. „Die Partei, die Partei, die hat immer recht!“, schmetterte das kommunistische Lied, und so militant wie die Parteihörigkeit ist die Marktergebenheit. Gläubige Neoliberale verkörpern das Gegenteil liberaler Bourgeoisie. Über letztere schrieb der feinsinnige Philosoph Odo Marquard: „Die liberale Bürgerwelt bevorzugt das Mittlere gegenüber dem Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber großen Infragestellung […], die Ironie gegenüber dem Radikalismus.“

Und die Konservativen? Nie hatten sie „ein so geschlossenes Gedankengebäude wie die Konzepte der beiden großen historischen Gegenspieler Sozialismus und Liberalismus“, schreibt der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Sein Buch „Worauf wir uns verlassen wollen“ plädiert „für eine neue Idee des Konservativen“. Winfried Kretschmann sucht nach einem zeitgemäßen Begriff des Konservativismus, den er „als ein höchst wandelbares Kind des Wandels“ sieht. Die jetzige Aufgabe ist weniger erhalten, was ist, sondern vielmehr erhalten, was die Menschheit erhält.

Konservative kippen oft ins Reaktionäre

Winfried Kretschmann zählt dazu ein menschenfreundliches Klima, natürliche Ressourcen, die sich regenerieren, die Luft zum Atmen und die biologische Vielfalt. Der grüne Konservativismus eröffnet der Gattung der optimistischen Bewahrer neue Aussichten. Die Frage ist nur, ob ein solcher Konservatismus die buchstäblichen, sehr traditionellen Konservativen anspricht. Diese gleiten momentan oft ins Neokonservative oder kippen ins Reaktionäre. Sie fühlen sich als Zurückgelassene des digitalen und globalen Umbruchs.

Und Schritt für Schritt kommen sie sich als entbehrliche Bürger vor. Das geht weit über den episodischen Protest von Wutbürgern der Pegidabewegung hinaus. Quer durch die Mittelschicht rufen Neokonservative nach der „Konservativen Revolution“. Einst war das der Schlachtruf der Diktaturfreunde in der Weimarer Republik. Jetzt widerhallt er in der ganzen westlichen Welt. Autoritäre sprechen damit jenen Teil der Konservativen an, der zutiefst erschrocken ist. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies