Robert Menasse betont: „Konfrontiert mit all diesen Krisen – jede für sich eine große Herausforderung, sie alle zusammen eine dramatische Bedrohung – reichte es nicht mehr den Status quo zu verwalten, sich im mühsamen Ausgleich sogenannter nationaler Interessen zu erschöpfen und die Europapolitik zu nennen.“ Die Europäische Union (EU) muss sich jetzt bewegen, sich weiterentwickeln, die Möglichkeiten von Gemeinschaftspolitik ausbauen, um diese Krisen zu managen, mit denen kein einziger Mitgliedstaat bei Wahrung seiner nationalen Souveränität allein fertigwerden könnte. Diese Krisen zeigen das Rohe, das Halbfertige, das buchstäblich beschränkte des europäischen Projekts, mit dem die Mitgliedsstaaten die längste Zeit geglaubt hatten, weiter leben zu können. Aber diese Krisen, eine nach der anderen, führten immer wieder aufs Neue vor, dass das nicht funktioniert. Seit 1988 lebt der Romancier und kulturkritische Essayist Robert Menasse hauptsächlich in Wien.
Die Union hatte die Binnengrenzen im Schengenraum abgeschafft
Zum Beispiel die globale Finanzkrise: Die Union hatte sich zu einer gemeinsamen Währung auf dem gemeinsamen Markt durchgerungen. Robert Menasse kritisiert: „Aber sie hatte sich nicht auf eine gemeinsame Finanzpolitik einigen können. Das hatten die nationalen Regierungen, die nationalen Finanzminister und die nationalen Parlamente, deren höchstes Gut die Budgetpolitik ist, nicht zugelassen.“ Die heilige nationale Souveränität. Die Flüchtlingskrise: Die Union hatte die Binnengrenzen im Schengenraum abgeschafft.
Aber der gemeinsame Schutz der Außengrenzen konnte nicht organisiert werden, es hätte in nationale Rechte eingegriffen. EU-Bürger haben in der ganzen Union Niederlassungsfreiheit und Arbeitserlaubnis. Robert Menasse fügt hinzu: „Aber es gibt keine europäischen Tarifverträge, kein europäisches Steuersystem, keine europäische Sozial- und Krankenversicherung. Und eine gemeinsame europäische Asyl- und Arbeitsmigrationspolitik im offenen Europa wurde von den Mitgliedstaaten blockiert.“ Das konnte man nationalen Wählern schon gar nicht verkaufen.
Die EU hat keinen gemeinsamen Rechtszustand in akut wichtigen Politfeldern
Aber was ist, wenn sie trotzdem kommen, Flüchtlinge, Migranten? Robert Menasse kennt die Antwort: „Dann herrscht ein Chaos, das in dieser Größenordnung nur entsteht, weil jeder Nationalstaat macht, was er will, ohne verbindliches gemeinsames Regelwerk, ohne gemeinsamen Rechtszustand in den akut wichtigen Politikfeldern.“ Die Eurokrise: Auf einem gemeinsamen Markt mit gemeinsamer Währung national zu bilanzieren und Nationalökonomen zu Oberrichtern über die europäische Wirtschaftsleistung zu erklären, ist ein so grotesker Unsinn, dass die Schulden Griechenlands in der Höhe von circa drei Prozent der Wirtschaftsleistung, zum Zerbrechen der Union und zum Absturz des Euro geführt hätten.
Drei Prozent! Kalifornien hat vergleichbar hohe Schulden, aber den Vorschlag, Kalifornien aus der Dollar-Zone zu werfen, hat niemand gemacht. Die Pandemie: Robert Menasse fragt: „Wie ideologisch verblendet müssen nationale Staatenführer sein, wenn sie unbedingt in täglichen Pressekonferenzen erklären wollen, dass sie das Management der Pandemie und die Impfstoffbeschaffung besser meistern als die Regierungen der anderen europäischen Staaten, die natürlich dasselbe von sich behaupten?“ Quelle: „Die Welt von morgen“ von Robert Menasse
Von Hans Klumbies