Richard Wilhelm beschreibt die Geburt der Philosophie

Für Richard Wilhelm entsteht Philosophie nicht voraussetzungslos. Vielmehr ist sie seiner Meinung nach stets zunächst ein Bewusstwerden eines Kultur- und Weltanschauungsbesitzes. Dieser beginnt anschließend durch irgendwelche historischen Ereignisse in Frage gestellt zu werden und bedarf deshalb einer gedanklichen Rechtfertigung, Weiterentwicklung oder Umgestaltung. Dazu kommt noch ein weiterer Umstand. Richard Wilhelm schreibt: „Wir finden nämlich um die Wende des 6. zum 5. vorchristlichen Jahrhunderts um die ganze Erde eine Welle geistiger Produktivität gehen, die unbewusst schlummerndes Weltanschauungsgut dem Individuum auf bisher ungekannte Weise zu eigen macht.“ Richard Wilhelm, der 1873 in Stuttgart geboren wurde und 1930 in Tübingen starb, war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Sinologen. Zudem war er als Theologe und Missionar tätig.

Der chinesische Kulturraum dehnt sich geographisch aus

Laut Richard Wilhelm ist es dieselbe Welle, die in Griechenland die Naturphilosophie erweckt, im israelitischen Prophetismus zum Individualismus des religiösen Gefühls voranschreitet, im Buddhismus eine neue Betrachtung der Welt ins Leben ruft und endlich auch in China das Zeitalter der großen Philosophen heraufführt. Richard Wilhelm fügt hinzu: „In China beginnt um die genannte Zeit eine neue Epoche, die durch die Namen Kung Kiu (Konfuzius) und Lao Dan (Laotse), denen sich etwas später noch Mo Di anschließt, charakterisiert wird.“

Der historische Zeitpunkt, der diese Wendung des geistigen Denkens hervorbringt, ist laut Richard Wilhelm der Übergang des alten Feudalstaates in ein System von rivalisierenden, zeitweise unter der Vorrangstellung mächtiger Territorialstaaten zusammengefassten, später sich allgemein bekämpfenden Großmächten, zwischen denen die kleinen Staaten allmählich ausgelöscht wurden. Richard Wilhelm ergänzt: „Mit diesen Vorgängen, die eine Vernichtung der alten Gesellschaftsordnung herbeiführten, an deren Stelle sich eine ganz neue Schichtung der Stände bildet, geht Hand in Hand eine geographische Ausdehnung des chinesischen Kulturraums.“

Die chinesische Schule der Schriftgelehrten

In den uralten Texten der chinesischen Schule der Schriftgelehrten findet der aufmerksame Leser unter einer sehr rationalen Hülle die Gestalten der weisen Herrscher des Altertums. Richard Wilhelm schreibt: „Sie sehen aus wie sehr weise und tugendhafte Menschen, obwohl das Göttliche gelegentlich in ihren Werken noch durchscheint – eine prälogische Weltanschauung doppelter Art.“ Richard Wilhelm fasst diese Schriften als eine astronomische Religion auf, wobei die „Vierzahl“ eine große Rolle spielt, die so charakteristisch für gewisse uralte solare Vorstellungen ist.

Richard Wilhelm erläutert: „Die vier Jahreszeiten, denen die vier Weltgegenden zugeordnet sind, werden als Offenbarungen der Götter angesehen, die in dunkle chthonische und lichte himmlische (Gui und Schen) geteilt erscheinen.“ Das dunkle Element scheint seiner Meinung nach das frühere zu sein, dem das himmlische später zur Seite tritt. Bei der Schule der Schriftgelehrten handelt es sich um eine wesentlich astral bedingte Weltauffassung. Die Bahnen der Himmelskörper sind für die Schriftgelehrten die Gestalter der irdischen Ereignisse.

Von Hans Klumbies