Die Kunst der Darstellung formt unsere Zivilisation

Die Kunst der Darstellung ist eine Ausdrucksform, die seit jeher alles Bereiche des menschlichen Lebens prägt. Richard Sennett spannt in seinem neuen Buch „Der darstellende Mensch“ einen weiten Bogen von der Antike bis zur Gegenwart, wodurch das Bild einer doppelbödigen Kunstform entsteht, die unsere Zivilisation formt, aber auch zerstören kann. Tatsächlich ist Darstellung einer der Künste, allerdings eine unreine Kunst. Richard Sennett schreibt: „Wir sollten die Kunst in ihrer ganzen Unreinheit verstehen wollen. Doch genauso sollten wir auch Kunst schaffen wollen, die moralisch gut ist, und zwar ohne jede Unterdrückung.“ In seiner ganzen schriftstellerischen Arbeit hat Richard Sennett nach dem gesucht, was die Menschen über Räume und Zeiten hinweg miteinander verbindet. Die Unterschiede, die es gibt, können Möglichkeiten des Lebens oder Ausdrucks offenlegen, die untergegangen oder durch Macht erstickt worden sind. Die Vergangenheit ist Kritik an der Gegenwart. Richard Sennett lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economic und an der New York University.

Die Macht des darstellerischen Ausdrucks kann gefährlich sein

Gegliedert hat Richard Sennett sein neues Werk in sechs Bücher. Im ersten beleuchtet er die beunruhigende, mehrdeutige, gefährliche Macht des darstellerischen Ausdrucks. Im zweiten Buch untersucht er die Orte, an denen Darbietungen stattfinden, und genauer noch die schrittweise Trennung der Bühnen von der Straße. Buch drei geht der Frage nach, wie der Darsteller in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte als eigenständige Person hervortrat.

Im fünften Buch schaut Richard Sennett auf die Zuschauer, deren Rolle heute im Dunklen liegt. Buch sechs macht sich Gedanken über die Frage, wie Darstellung sowohl die Politik als auch das alltägliche Leben emporheben könnte. „Die ganze Welt ist Bühne“ besitzt eine städtische Bedeutung. In der Stadt gibt es drei Räume, in denen etwas aufgeführt wird. Es sind die offenen Bühnen, die geschlossenen Bühnen und die verborgenen Bühnen. Diese drei Räume sind mehr als bloße Kulissen. Sie prägen die Art, wie Darbietende sich darstellen und die Zuschauen das Dargebotene betrachten.

Künstler können die Kritikfähigkeit der Zuschauer fördern

Darsteller erschienen und erscheinen auf der Bühne oftmals als Agenten der Macht, von Platons Puppenspielern bis hin zu Donald Trumps virtuosen Auftritten bei Massenversammlungen. Die andere Seite des Darstellens, von Isabella Andreini bis Bertolt Brecht, sieht in der Darstellung eine Herausforderung an die Macht. Auf der Bühne sind es Architektur, körperliche Gebärden, Kostüme und Masken, die als „Gesetzgeber“ der Politik fungieren – und ihr entweder dienen oder ihr entgegentreten.

Eine positive Sicht auf die Rolle der darstellenden Kunst in der Natur stammt von dem großen amerikanischen Denker und Philosophen des Pragmatismus John Dewey. Er lehnte jedoch jegliche Vergötterung der Kunst und des Künstler ab. Richard Sennett schreibt: „Der Künstler ist nur insofern etwas Besonderes, als er über Materialien und Fähigkeiten verfügt, die sich als erhellend für anderen Menschen erweisen können – im Idealfall – als Fragende in die Erfahrung eintreten und sich nicht scheuen, zu kritisieren und zu urteilen.“

Der darstellende Mensch
Kunst, Leben, Politik
Richard Sennett
Verlag: Hanser Berlin
Gebundene Ausgabe: 284 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-446-28174-5, 32,00 Euro

Von Hans Klumbies