Der Unterschied zwischen den Kulturen hat ökonomische Gründe

Das Leben von Menschen, die in der westlichen Kultur aufgewachsen sind, ist durch beträchtliche Freiräume und Autonomie geprägt. Häufig können sie ihren Interessen nachgehen, ohne sich groß um die Belange anderer Personen zu kümmern. In zahlreichen anderen Kulturen ist das Leben sehr viel eingeschränkter. Richard E. Nisbett fügt hinzu: „Die Freiheit des Westens hat ihren Ursprung im bemerkenswerten Begriff der persönlichen Handlungsmacht (personal agency), der von den antiken Griechen geprägt wurde.“ Im Gegensatz dazu legte die ebenso alte wie hochentwickelte Zivilisation Chinas sehr viel mehr Gewicht auf Harmonie mit den Mitmenschen als auf die Freiheit individueller Handlungen. In China erforderte effektives Handeln stets die reibungslose Interaktion mit anderen – sowohl mit Vorgesetzten als auch im Gleichgestellten. Richard E. Nisbett ist Professor für Psychologie an der University of Michigan.

Ostasiaten betrachten die Welt im Allgemeinen aus einer holistischen Perspektive

Die Unterschiede zwischen West und Ost im Grad von Freiheit gegenüber wechselseitiger Abhängigkeit bestehen noch heute. In seinem Buch „The Geography of Thought“ vertritt Richard E. Nisbett die These, dass diese unterschiedlichen sozialen Orientierungen ursprünglich ökonomischer Art waren: „Der Lebensunterhalt der antiken Griechen beruhte auf Tätigkeiten, denen man allein nachging, wie Handel, Fischen und Viehzucht, sowie auf Landwirtschaft, wie der Anlage eines Gemüsegartens oder einer Olivenplantage.“

Die Chinesen betrieben Landwirtschaft, insbesondere Reisanbau, die viel mehr Kooperation erforderte. Autokratie war vielleicht eine effiziente Regierungsform in einer Gesellschaft, in der das Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“ keine Option war. Demzufolge mussten die Chinesen den sozialen Kontext stärker beachten als die Griechen. Ostasiaten betrachten die Welt im Allgemeinen aus einer holistischen Perspektive. Sie sehen Objekte – einschließlich Menschen – in deren Kontext. Sie neigen dazu, Verhalten aus der Situation heraus zu erklären, und sie achten genau auf Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Objekten.

Bewohner der westlichen Welt haben eine eher analytische Perspektive

Richard E. Nisbett ergänzt: „Bewohner der westlichen Welt haben eine eher analytische Perspektive. Sie achten auf das Objekt, registrieren seine Eigenschaften, kategorisieren das Objekt aufgrund dieser Eigenschaften und beurteilen es nach den Regeln, die ihrer Meinung nach auf Objekte dieser speziellen Kategorie anzuwenden sind.“ Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung. Richard E. Nisbett hegt keinen Zweifel daran, dass die analytische Sichtweise ihren Teil zur westlichen Dominanz in der Wissenschaft beigetragen hat.

Und in der Tat erfanden die Griechen wissenschaftliches Denken zu einer Zeit, in der die chinesische Zivilisation, auch wenn sie in der Mathematik und in vielen anderen Gebieten große Fortschritte erzielte, keine wirkliche Wissenschaftstradition im modernen Sinne vorzuweisen hatte. Dennoch bewahrt die holistische Perspektive die Angehörigen fernöstlicher Kulturkreise vor gravierenden Denkfehlern, wenn es darum geht, das Verhalten anderer Menschen zu verstehen. Zudem ist im Osten die Überzeugung verankert, dass Menschen sich ändern können. Quelle: „Einfach denken!“ von Richard E. Nisbett

Von Hans Klumbies

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