Die Gedanken, Gefühle und Interessen der Menschen scheinen heutzutage in vielen Wirtschaftsbereichen nichts mehr zu gelten. Für den weltklugen irischen Konservativen Edmund Burke, einen Schriftsteller und Politiker des 18. Jahrhunderts, waren sie allerdings der einzige feste Halt von Autorität. Nicht Gesetze, Sätze auf Papier mit Unterschriften, entscheiden darüber, ob eine Gesellschaft zusammenhält, sondern ihre „Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Sympathien füreinander“. Ihre „Sitten, Umgangsformen und Lebensgewohnheiten“ stiften den sozialen Kitt; „Verpflichtungen, die mit dem Herzen besiegelt werden“. Richard David Precht stellt fest: „Doch offenkundig kümmern sich die großen Digitalkonzerne bei der Ausübung ihrer neuen Weltherrschaft herzlich wenig um die Maxime, Macht auf Sitten und Gebräuche zu gründen.“ Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Herrschaft muss auf Zustimmung gründen
Die digitale Revolution ist nicht nur ein Angriff auf den Arbeitsmarkt und das Zusammenleben, sondern auch auf die Ästhetik der Völker. Mode und Sprache normieren sich gleichermaßen, und aus Deutsch wird Denglisch. Selbst die Kreativität wird genormt, ist sie erst einmal eingefriedet in Großraumbüros und Future Labs. Ein Zugewinn an Manieren, Distinktionen und Stil, an regionalen Eigenheiten und neuen Traditionen ist weniger in Sicht. Wo auch immer sich die digitale Zivilisation ausbreitet, nirgendwo passen sich die Digitalkonzerne an die Kultur an.
Herrschaft muss auf Zustimmung gründen, nicht auf kultisch verklärten Idealen, seien sie die Tugend, die absolute Gerechtigkeit, die völlige Gleichheit oder die zu Erlösungsfantasien verkitschte Technik. Richard David Precht schreibt: „Und wer die Suchmaschine von Google benutzt oder sich auf Facebook oder Instagram herumtreibt und WhatsApp-Nachrichten schreibt, hat seine bewusste Zustimmung nur einer Dienstleistung gegeben, nicht aber einem globalen Herrschaftsanspruch undurchschaubarer Digitalkonzerne.
In Deutschland träumen viele Menschen von Abschottung
Dass das, was sich in den Ländern des Westens gegenwärtig ereignet, nicht auf Zustimmung beruht, ist das Gefühl vieler Menschen – trotz freier Wahlen. Über Fragen der Globalisierung oder der Einheitszivilisation wurde nirgendwo abgestimmt. Zumindest aber ihre Folgen werden nun zum Thema; insbesondere die, dass die Menschenströme stets den Kapitalströmen folgen – jedenfalls dann, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Überall in Europa wird die Globalisierung heute vor allem an dieser einen, weithin sichtbaren Folge diskutiert.
Die bunten Gesellen, vom Sturmwind verweht, die Glückssucher mit Plastiktüten, Kopftüchern und Kunstlederjacken, die ihre üblen Erfahrungen und unerfüllten Träume mitbringen, sind keine Ursache von irgendetwas, sondern die Folge des Kapitalismus, sind die Folge von ungleichen Lebenschancen und Ressourcen. Doch gerade an ihnen entzünden sich die Gemüter, findet das gesellschaftliche Unbehagen der Gegenwart ihr Ventil. In Deutschland, nicht anders als in anderen europäischen Ländern oder unter Trump-Wählern, träumen viele von Abschottung, um ihre Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht
Von Hans Klumbies