Viele Menschen fürchten den Verlust ihrer Werte

Dass eine Gesellschaft Werte braucht, darüber besteht zu Recht Einigkeit. Toleranz ist beispielsweise ein feiner Wert, aber nicht durch und durch. Pluralismus ist wünschenswert, aber vielleicht nicht immer und in allem. Freiheit ist gut, aber nur gepaart mit sozialer Sicherheit. Das Fremde ist anregend und bereichernd, verunsichert aber trotzdem leicht. Die Angst vor dem Verlust von Werten ist ein großes und wichtiges Thema. Richard David Precht warnt: „Denn aus dieser Sicht ist das krakeelende Unbehagen in der Kultur, das sich AfD nennt, nur eines: ein Vorbeben, dem viele größere Erschütterungen folgen werden.“ Der Islam zum Beispiel kennt den Angriff des global-liberalen Kapitalismus auf seine kulturelle Identität schon seit vielen Jahrzehnten. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Im Kapitalismus zählt nur der Wert des Geldes

Außer Tyrannen, Trittbrettfahrern, Trotz und Terror ist dem Islam dazu bislang wenig eingefallen. Richard David Precht nimmt nicht an, dass deutschen Protestwählern, die sich als Schutzgemeinschaft deutscher Werte missverstehen, Besseres einfallen wird. Wut, die von Erfahrung gesättigt ist, gibt es bei Pegida und der AfD nicht. Doch die Wut, das Misstrauen und das Unbehagen sind real. „Wenn jemand eine Situation für real hält, dann ist dies in seinen Folgen real“, lautet eine wichtige Erkenntnis der Sozialpsychologie.

Dass Konservativismus und Kapitalismus nicht gut zusammenpassen, stand eigentlich schon von Anfang an fest. Nicht ohne Grund bekämpfte die konservative Hofpartei, die Tories, im frühindustrialisierten England des 18. Jahrhunderts die liberalen Whigs mit ihrer Forderung nach freien Märkten und freiem Handel. Der Kapitalismus ebnet alle traditionellen und emotionalen Werte ein, indem er alles an einem einzigen rationalen Wert bemisst: dem Geld. Wo das Effizienzdenken waltet, steigt der Wohlstand und stirbt das Althergebrachte.

In der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück

Die Erde sättigt heute viele Milliarden Menschen. In Europa verhungerten noch im 19. Jahrhundert Millionen. Als Preis dafür verliert die Welt in immer schnellerem Tempo das Traditionelle, konserviert allenfalls als kommerzialisierte Folklore. Wo der Kapitalismus mit sich selbst allein ist, an den Finanzmärkten der City of London, in New York, Tokio und Singapur, spottet er jeder Ordnung, verachtet die Sparsamkeit und übernimmt keinerlei Verantwortung.

In der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück, nur eine Bewegung nach vorn. Man möchte es den aufbegehrenden Konservativen ganz freundlich sagen. Und mit Aristoteles ergänzen: „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“ Eben deshalb braucht die Gesellschaft ein Ziel, ein positives Bild, das hilft, Notwendigkeiten von Handlungen zu erkennen. Nur konkrete Visionen geben der Politik eine Agenda an die Hand, was sie fordern und fördern soll – in der Wirtschaft, in der Bildungs- und in der Arbeitsmarktpolitik. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies