Die Religion ist der gefährlichste Feind des freien Denkens

Die unstillbare Sehnsucht nach Reinheit, gefährlichste Feindin freien Denkens, ist die Obsession des Religiösen zu allen Zeiten in allen Kulturen – schon deshalb, weil Religion gewöhnlich auf Absolutes, Immaterielles und damit eben auch Reines zielt. In Krisenzeiten wird der Wunsch nach Reinheit besonders drängend. Bernd Roeck stellt fest: „Gereinigt durch die Taufe beginnen Christinnen und Christen ihr Leben; durch Buße reinigen sie sich im Inneren. Sich Gott zu nähern verlangt Reinheit, vom Priester wie vom Gläubigen. Am Ende helfen Sterbesakramente bei letzter Säuberung.“ Noch nach dem Tod vollzieht das Fegefeuer – jene furchterregende Erfindung der Kirchenväter – eine allerletzte Purgation. Sie erst macht dazu bereit, in den Himmel einzugehen. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

Auf politischer Ebene erzeugte die Religion Kraken der Überwachung

Unreinen ist der Himmel verschlossen. Ein von Sünden möglichst wenig beflecktes Leben half, die Leidenszeit im Fegefeuer zu verkürzen und am Ende den Sturz ins Inferno zu vermeiden. Die Angst vor Höllenstrafe und Endgericht drückte dem Pilger den Wanderstab in die Hand und dem Kreuzritter das Schwert; sie veranlasste dazu, Armen und Kranken zu helfen, und nährte so nicht nur Kriegseifer, sondern auch Nächstenliebe. Auf politischer Ebene erzeugte sie Kraken der Überwachung. Die Flammen der Scheiterhaufen säuberten die Gemeinschaft von Ketzern, Homosexuellen und anderen „Unreinen“.

Auch Europas Juden hatten zu leiden. Gegen schwere Steuer waren sie geduldet mit dem von Augustinus stammenden Argument, Zeugen der christlichen Wahrheit zu sein. Schon während der Umbrüche der Warmzeit wurden sie indes wiederholt zu Opfern ritueller Sühneleistung der Gesellschaft. Reinheit drängt auf Einheit. Versuche, Gesellschaften auf den einen, reinen Glauben zu verpflichten, endeten jetzt und später in Krieg, Terror, Zerspaltung. Wenn das Alte Testament die Vermischung Israels mit sündhaften Heidenvölkern beklagte, konnte das als Aufforderung gelesen werden, alles Abweichende, Ketzerische auszusondern oder zu vernichten.

Fanatiker der Reinheit finden sich in allen Religionen

Bernd Rock erklärt: „Die Auseinandersetzungen um Reinheit hatten viele Arenen. Bilderfeindliche Bewegungen strebten danach ebenso wie Reformatoren, die alte Rituale abschafften. Reinheit sollte in Stadt, Haus und Familie herrschen, erst recht an heiligen Plätzen.“ Christus hatte das Vorbild gegeben, als er Jerusalems Tempel reinigte; er war – wie nach ihm Muhammad – angetreten, das Judentum zu erneuern und zu läutern, nicht, um eine neue Religion zu stiften. Als wichtigsten Schauplatz hatte der ewige Kampf den eigenen Körper.

Rein zu sein, verlangte Arbeit am Selbst, verlangte vor allem die Unterdrückung der Gier nach Lust des Leibes. Mönchsregeln, die Logbücher für den Weg zu Heiligkeit und Himmelreich, widmen diesem Punkt große Aufmerksamkeit. Sekten, Mystiker, Asketen und Eremiten mühten sich am unerreichbaren Ziel ab, alles Irdische zu überwinden und rein zu werden. Manche kamen ohne Speise aus, manche ohne Sex. Fanatiker der Reinheit finden sich in allen Religionen. Die Vorkämpfer der Reinheit scheint eine Art religiöser Waschzwang zu plagen, der, werden ihm nicht Grenzen gesetzt, nichts und niemanden verschont. Quelle: „Der Morgen der Welt“ von Bernd Roeck

Von Hans Klumbies