Die Macht rechtfertigt sich durch den Glauben und die Pflicht

Innerhalb der christlichen Zeitrechnung gab es neben der Ausbreitung der Macht immer auch das Bestreben, ihr einen Sinn zu geben. Europa bietet laut Reinhold Schneider in einem Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden den Anblick mit ungeheurer Schnelligkeit erblühender und welkender Reiche. Die Aura der Macht, die eines nach dem andern über den Erdkreis wirft, scheint kaum mehr zu sein als ein Blitz. Der Wechsel der Vormacht vollzieht sich in immer gefährlicherer Schnelle. Die höchste Macht, das Imperium, das heißt das Erbe Roms, wird als Antrieb in allen europäischen Völkern lebendig. Es ist, als habe dieses längst verloschene römische Weltreich noch in seinem Untergang tödliche Samen gesät. Alle Völker, selbst diejenigen, deren natürlicher Lebensraum einer solchen Nachfolge spottet, erstreben cäsarische Macht. Der Schriftsteller Reinhold Schneider, geboren 1903 in Baden-Baden, gestorben 1958 in Freiburg/Breisgau, wurde 1956 mit dem Friedenspreis des Deutschen Bundhandels ausgezeichnet.

Die Kolonialgeschichte verdankt ihre Existenz der christlichen Idee

Die Architektur Roms, die in allen Zentren der Macht in Europa und selbst Amerikas erscheinen, bekundet für Reinhold Schneider eine Nachfolge nicht nur im Sinne der Kunst. Sie drückt auch die Übernahme einer gefährlichen Erbschaft aus, deren dämonischen Zwang die Völker, sobald ihr Machtbewusstsein wuchs, nicht widerstehen konnten. Als die Reiche emportauchten und die Herrschaft als solche Mitte des Lebens hätte sein müssen, erhob sich auch die Frage nach ihrem Sinn und ihrem Ziel.

Während der Kolonialgeschichte hatte Europa keine andere Idee über die Meere zu tragen als die christliche. Weder die Gier nach Gewinn, noch die Lust nach Abenteuer und Entdeckungen hätten genügt, überseeische Reiche zu schaffen: es bedurfte des Kreuzes auf der Fahne. Reinhold Schneider fügt hinzu: „Und es gab wohl keinen Konquistador, der sich nicht, ungeachtet der Gräuel, die er verübte, dem Kreuz verpflichtet fühlte. Sie alle standen im Schatten eines unlösbaren Widerspruchs; sie mochten ihren letzten Mut dem Glauben verdanken, aber dieser Glaube war der Macht feindlich, die sie begehrten.“

Friedrich der Große vertritt das aristokratische Prinzip der Macht

Die Kolonialgeschichte ist für Reinhold Schneider eine politische und zugleich religiöse Tragödie. Die demokratischen Kräfte, die endlich zum Abfall vom Mutterland führten, haben seiner Meinung nach ihren Ursprung in religiösen Gemeinschaften. So hatte beispielsweise selbst die englische Demokratie des siebzehnten Jahrhunderts nicht als politische, sondern als religiöse Lebensform ihre fortreißende und zersprengende Wirkung. Reinhold Schneider erklärt: „Vom religiösen Erlebnis her und getragen von seinem Feuer, bemächtigte sich die Idee von der völligen Freiheit des gläubigen einzelnen, die in England ausgebildet worden war, des amerikanischen Kontinents.“

Friedrich der Große rechtfertigt seine Macht hingegen aus dem sittlichen Bewusstsein heraus. An die Stelle des Glaubens tritt die Pflicht, die, wie der Glaube, schwerste Opfer fordert, wenn diese auch nicht mehr vor Gott gebracht werden, sondern vor einem Gesetz, das der höchste Vertreter des Staates vorlebt und das dadurch für alle Gültigkeit hat. Diese Form, wie sehr sie auch auf den Dienst an der Gesamtheit eingestellt sein mag, ruht auf dem aristokratischen Prinzip. Sie fällt mit dem Sturz der Aristokratie und kann nur nach deren Wiederkehr erneut zusammengefügt werden.

Von Hans Klumbies