Der Süchtige pendelt zwischen Himmel und Hölle

Die Begriffe Himmel und vor allem Hölle werden außerhalb des Religiösen kaum irgendwo so häufig gebraucht wie im Zusammenhang mit Sucht. Reinhard Haller nennt Beispiele: „Drogen als Himmelsgabe, göttliches Elixier oder Angels Dust auf der einen und Heroinhölle, Drogenhölle, Spielhölle, Hölle des Entzugs, sogar Hölle als Kombination dieser Vorstellungen auf der anderen Seite.“ Rausch und Sucht sind ein Modell des Zusammenspiels, ja der Zusammengehörigkeit von elysischem Glück und quälendem Siechsein, aber auch für die Limitierung dieser beiden Pole durch den jeweils anderen. Die Sucht und ihre Qualen scheinen am besten geeignet zu sein, ein zeitgemäßes greifbares Bild dessen liefern zu können, wie man sich heute die Hölle und ihre Qualen konkret vorstellen kann. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

Rauschmittel sollen die Verbindung zum Jenseitigen herstellen

Drogen werden sowohl als Götterspeise als auch als Teufelszeug bezeichnet. Die einen lobpreisen die Rauschsubstanzen, die anderen warnen vor Alkohol, Drogen und allem, was süchtig machen kann. Reinhard Haller schreibt: „Die polarisierte Darstellung zieht sich durch die ganze Kulturgeschichte, vom Dionysoskult bis zur Prohibition, vom Alkul, dem „Feinsten vom Feinen“ der arabischen Welt, bis zu der dort etablierten muslimischen Kultur der Abstinenz.

Rauschmittel sollen andererseits als wichtigste Kulturmittel die Verbindung zum Jenseitigen, zum Himmlischen und Höllischen gleichermaßen, herstellen. Aber sie werden auch für Krankheit und familiäres Elend, für Verbrechen und Krieg, für die kollektive Vergiftung der Jugend und den Untergang der Menschheit verantwortlich gemacht. Allein der Drogenkrieg in Mexiko hat von 2006 bis 2018 über 200.000 Tote gefordert. Auf der anderen Seite wird Koka in kultischen Sprüchen als „Götterbrot, das die Hungernden sättigt, den Ermüdeten Kraft gibt und die Traurigen tröstet“ gepriesen.

In der Europäischen Union gibt es etwa 8.000 Drogentote pro Jahr

Gleichzeitig ist Koka verantwortlich für Schlaganfall und Herzstillstand schon bei jungen Personen oder für schwerste, kaum behandelbare Depressionen von Menschen, die im Alter von Reinhard Haller sind. Als es dem deutschen Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner 1803 erstmals gelang, aus dem seit Jahrtausenden als schmerzstillende Substanz bekannten Schlafmohn die Wirkstoffe zu isolieren, benannte er ihn nach Morpheus, dem griechischen Gott des Schlafes.

Daraus wurden hervorragende Medikamente, ohne die eine moderne Schmerztherapie gar nicht denkbar wäre, entwickelt. Dieselbe Substanz ist allerdings verantwortlich für körperlichen Verfall und fast aussichtslose Abhängigkeit, für die Mehrzahl der etwa 8.000 Drogentoten allein in der Europäischen Union (EU), für die Epidemie in amerikanischen Städten, für die der amerikanische Präsident den nationalen Notstand ausgerufen hat. In den USA fordert das Schmerzmittel Oxycontin jährlich rund 42.000 Todesopfer. Die Verdichtung des Himmlischen und Höllischen findet man im sogenannten „Goldenen Schuss“, von dem man meist nicht genau weiß, ob er die Erfüllung des ultimativen Traums eines himmlischen Suizids oder eine nicht gewollte Überdosierung in der süchtigen Grenzenlosigkeit bedeutet. Quelle: „Vom Himmel des Rausches zur Hölle der Sucht“ von Reinhard Haller in Philosophicum Lech „Die Hölle“

Von Hans Klumbies