Rebekka Reinhard klärt über die Selbstverliebtheit auf

Die Menschen der Gegenwart sind laut Rebekka Reinhard so auf sich selbst fixiert, dass es ihnen schwer fällt, daneben auch noch etwas anderes wahrzunehmen. Die Begriffe Ich und Selbst ziehen sich als Leitmotive durch den Grundwortschatz des modernen Menschen. Die Philosophin schreibt: „Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, ein gutes Selbstwertgefühl und eine gesunde Ich-Stärke gelten als Grundvoraussetzungen für ein glückliches Leben.“ Selbstbewusst wird man, indem man sein eigenen Ich herausstellt. Ihm muss eine Bedeutung zukommen, die es authentisch macht und von allen anderen Ichs unterscheidet. Authentisch wird ein Mensch, indem er Aussagen über sich selbst trifft, die eigenen Wüsche und Bedürfnisse formuliert und möglichst klarstellt, was einem nicht passt.

Die Menschen haben einen übergreifenden Sinnzusammenhang verloren

Rebekka Reinhard ist sich sicher, dass die meisten Menschen heutzutage kein Lebensideal mehr haben. Alles was sie wollen, ist ein möglichst ideales Leben. Sie arbeiten hart, um sich anschließend eine Belohnung abzuholen. Sie leben nur für sich. Der Gedanke ist ihnen fremd, dass ihre Identität ein Teil der Menschheitsgeschichte, ein Teil eines Kollektivschicksals sein könnte. Ihre Gegenwart scheint völlig losgelöst von einem übergreifenden Sinnzusammenhang. Zwar halten sie noch an bestimmten Ritualen wie Ostern oder Weihnachten fest, aber der Glaube daran fällt ihnen schwer.

Der zeitgenössische Mensch fühlt sich zu modern, zu aufgeklärt, zu desillusioniert, um noch Halt in einer übergeordneten Welt finden zu können. Rebekka Reinhard schreibt: „Das Göttliche erscheint uns mehr als Gespenst denn als eine Offenbarung.“ Wenn die Kinder anfangen, ihre Eltern nach dem Verbleib der Großeltern zu fragen, wissen die meisten keine Antwort mehr. Noch bis zur französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts war Gott allgegenwärtig, danach zog die Ratio an ihm vorbei. Schon in Friedrich Nietzsches Schrift „Fröhliche Wissenschaft“ hieß es: „Gott ist tot!“

Das eigene Ich lässt sich nicht wie eine Hose wechseln

Je intensiver sich die Menschen mit ihren eigenen Leidenschaften, Sorgen, Vorlieben, Abneigungen und Ängsten auseinandersetzen, desto unsicherer werden sie. Im Lauf der Jahre setzt dann eine milde Verzweiflung ein, denn mit der Zeit erkennen sie immer deutlicher, dass die der alltäglichen Wiederkehr des immer Gleichen nicht entrinnen können. Sie begegnen immer wieder den gleichen Situationen, den gleichen Abläufen. Irgendwann stellt sich bei vielen eine Art Lebensmüdigkeit ein. Rebekka Reinhard schreibt: „Wir möchten verzweifelt ein anderer sein – ein schönerer, kompetenterer, beliebterer, erfolgreicherer Mensch –, und müssen doch feststellen, dass wir das eigene Ich nicht wechseln können wie eine Hose. Wir verzweifeln an der grausamen Wirklichkeit.“

Der Mensch hat es noch nicht geschafft sich selbst zu erlösen und hat sich auch nicht in einen Übermenschen verwandelt, wie Friedrich Nietzsche es vorschwebte. Den meisten fehlen der Mut und die Leichtigkeit, über den Dingen zu stehen und das Leben von einer erhöhten Warte aus, belustigt als ewiges Schauspiel zu betrachten. Die Menschen sind zu sehr auf sich selbst fixiert und vergessen vor lauter Selbstverliebtheit, dass es noch mehr gibt auf der Welt als das eigene aufgeblasene Ich. Das Leben ist voller Rätsel und Geheimnisse, die es zu erforschen gilt.

Von Hans Klumbies