Rebekka Reinhard fordert eine Erneuerung der Ethik

Rebekka Reinhard glaubt, dass das Leben aus einem Menschen einen Philosophen machen kann. Dies geschieht immer dann, wenn der Lebensweg besonders kompliziert, aussichtslos, unübersichtlich oder verwirrend geworden ist. Dann stellen viele Menschen die Frage nach dem Sinn des Lebens oder der Bedeutung des eigenen Ichs. Rebekka Reinhard schreibt: „Der Unterschied zwischen uns und den klassischen Philosophen besteht hauptsächlich darin, dass wir irgendwann meinen, eine endgültige Antwort auf unsere Fragen gefunden zu haben. Der klassische Philosoph dagegen nimmt jede Antwort zum Anlass, eine neue Frage zu stellen.“ Er weiß, dass das menschliche Dasein voller Irrtümer ist. Dennoch hofft er eines Tages die ganze Wahrheit erkennen zu können.

Nichts kann mit letzter Sicherheit gewusst werden

Das Leben ist laut Rebekka Reinhard voller Verwirrungen, die sich nie ganz auflösen lassen. Es gibt hier keine vollständige Transparenz. Wenn der Mensch herausfinden will, wie die rechte Art des Lebens ausschauen könnte, muss er es wagen, vom rationalen Wollen des Verstehens abzuirren und sich gegen die Grenzen der Sprache zu stemmen. Die Philosophin sagt: „Nur dann haben wir eine Chance, nicht nur gute Denker, sondern auch gute Menschen zu werden.“ Allerdings liegen die Fragen der Ethik in dem Bereich des Unsagbaren, der sich jenseits dessen befindet, was Ludwig Wittgenstein sprachlich sinnvolle Sätze nennt.

Der jüdische Philosoph und Talmudgelehrte Emanuel Lévinas, der von 1905 bis 1995 lebte, stellte sich dieser Auffassung entgegen. Allerdings hat er ähnlich wie Ludwig Wittgenstein eine Aversion gegen die Vorstellung, man könne moralisches Handeln in ein theoretisches System integrieren. Auch er will die Menschen an die Grenzen des Verstehens heranführen, dorthin, wo es keine Orientierung an sicheren Erkenntnissen mehr gibt. Emanuel Lévinas vertritt die Überzeugung, dass nichts mit letzter Sicherheit gewusst werden kann.

Ethisches Handeln muss der Aufforderung vorangehen

Nicht die Selbstzentriertheit macht den Menschen aus, sondern seine Beziehung zu seinen Mitmenschen. Rebekka Reinhard schreibt: „Tatsächlich appelliert der andere an unsere Menschlichkeit, sobald wir in seiner Nähe sind. Allerdings nicht, indem er erklärt, weshalb wir uns ihm gegenüber freundlich und verantwortlich verhalten sollten. Sondern indem er uns einfach sein Gesicht zuwendet.“ Das Gesicht eines anderen Menschen erinnert einen selbst immer wieder auch an sein eigenes Anderssein.

Rebekka Reinhard ist davon überzeugt, dass ethisches Handeln jedem Ruf und jeder Aufforderung voranzugehen hat. Sie erklärt: „Nur wenn wir immer schon bereit sind, dem anderen zu antworten, ihn zu schützen und für ihn zu sorgen – und zwar unabhängig davon, ob uns das etwas bringt, ob wir etwas zurückbekommen –, erweisen wir uns als menschlich.“ Nur dann wird ein Individuum der Menschlichkeit gerecht, die schon immer in ihm schlummert. Auch Emanuel Lévinas glaubt, dass eine solche Verpflichtung jenseits allen Denkens in Nutzwerten immer schon im Menschen verankert ist.

Von Hans Klumbies