Das Denken ist kostenlos

Der Intellekt wird in den Gesellschaften des Westens hoch geschätzt. Deshalb ist nicht nur der Bedarf an Gutem, sondern auch der Denkbedarf gigantisch. Rebekka Reinhard erklärt: „Riesige Mengen kognitiver Inhalte werden täglich produziert und freigesetzt. Denken ist ein globaler Markt, der keine Lieferengpässe kennt. Das Tolle am Denken ist: Es ist kostenlos.“ Jeder Mensch mit verstandes- und vernunftmäßiger Ausstattung kann so viel denken, wie er will. Man kann sich sein Gehirn vorstellen wie einen inneren Streaming-Dienst, der alle Themen, Info-Formate, Filme und Serien inkludiert – und damit nicht alle guten und schlechten Gedanken, sondern auch sämtliche positive und negative Emotionen. Rebekka Reinhard ist Chefredakteurin des Magazins „human“ über Mensch und KI. Unter anderem ist sie bekannt durch den Podcast „Was sagen Sie dazu?“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg.

Die Welt lässt sich nicht durch Denken kontrollieren

Ununterbrochenes Denken verspricht Sicherheit auf einem Planeten, der alle halbe Stunde eine neue „Neue Normalität“ ausruft. Rebekka Reinhard ergänzt: „Je unsicherer die Lage, je dramatischer die „Zeitenwenden“, desto intensiver das Denken – desto hartnäckiger die Illusion, man könne die Welt durch Denken kontrollieren.“ Man glaubt, man könnte ohne Dauerdenken nicht leben, nicht erfolgreich, nicht glücklich sein. Nichts wissen. Nicht rechthaben.

Rebekka Reinhard stellt fest: „Man glaubt es nicht nur, man denkt es auch ständig – was paradoxerweise zur Folge hat, dass man immer genau dorthin zurückgeworfen wird, wo man nicht sein will: in einen Haufen Ängste, Probleme und Sorgen: Die Mieterhöhung. Den Streit mit der Nachbarin. Die politische Entwicklung.“ Die Lieblingsworte aller Dauerdenker sind die Worte „ich“ und „muss“. „Ich muss“ ist eine der am häufigsten produzierten Wortkombinationen der westlichen Kultur. Ich muss weiterkommen. Ich muss dieses Problem lösen. Ich muss sofort nach Frankfurt. Ich muss glücklich werden.

Das Dauerdenken hat ein überaus hohes Suchtpotenzial

Dabei ist das, was „ich will“, leider meist etwas ganz anderes als das, was „ich muss“. Rebekka Reinhard erläutert: „Sie wollen den andauernden Denkprozess stoppen – müssen aber immer weiterdenken, vorwärts denken, vorausdenken, weil Sie fürchten, sonst die Kontrolle zu verlieren. Über Ihren Tagesablauf, Ihre Pläne, Ihre Angst.“ Rebekka Reinhards Name für das Dauerdenken, das ohne Rücksicht auf das, was man eigentlich will, unbarmherzig in den Hirnen vor sich hinströmt, ist „Kognitives Streaming“.

Kognitives Streaming bringt weder Ergebnisse für eine bessere Welt hervor, noch macht es irgendwie glücklich. Rebekka Reinhard betont: „Dafür hat das Dauerdenken – wie herkömmliche Streaming-Dienste – ein überaus hohes Suchtpotenzial. Je mehr Sie sich mit Ihrem Intellekt identifizieren, je mehr Sie glauben, durch ununterbrochenes Denken alle Ängste kontrollieren, alle Probleme lösen zu „müssen“, desto abhängiger werden Sie.“ In den Medien wird über Alkoholismus, Spielsucht, Magersucht, Fettsucht berichtet. Der Denksucht hat noch niemand eine Talkshow gewidmet. Quelle: „Die Kunst gut zu sein“ von Rebekka Reinhard

Von Hans Klumbies