Gutes Charisma entsteht aus mutigem Andersein

Im traditionellen Christentum stand das altgriechische Wort „chárisma“ für „Gnadengabe“ – eine vom Geist Gottes geschenkte Fähigkeit, Wunder zu vollbringen. Rebekka Reinhard stellt fest: „Heute, da wir unter dem Eindruck von Instagram immer weniger an den Heiligen Geist glauben und immer mehr an die Magie der Selbstvermarktung, ist Charisma zu einem vielschichtigen Business mutiert.“ In der allgegenwärtigen Welt der Bilder versucht irgendwie jeder, seine ganz besondere Ausstrahlung an den Mann oder die Frau zu bringen, von der Kosmetik-Expertin bis zum Uni-Professor. Soziale Medien, Arbeitswelt, Dating-Markt – das ganze Universum scheint Posern überzogen, die in einer Tour Selfies schießen, die scheinbar alles überstrahlen und andere Menschen anlocken, es ihnen gleich zu tun. Rebekka Reinhard ist freie Philosophin in München und verdient ihr Geld mit Beratung sowie mit Büchern wie „Die Sinn-Diät“ oder Artikeln für die Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“.

Die Macht der Ausstrahlung wirft ethische Fragen auf

Jeder noch so langweilige Durchschnittstyp kann heute scheinbar groß rauskommen, sobald er seinen ganz persönlichen Charisma-Code knackt. Der Toolkoffer der authentischen Selbstinszenierung steht allen offen. Der Trend zum gehirnamputierten Rollenspiel lässt mit Charisma gesegnete Individuen wie Pilze aus dem Boden schießen. Bloß: Welchen Wert hat eine Ausstrahlung, die nur auf einer Illusion gründet? „Über die Geltung des Charisma entscheidet die … Anerkennung durch die Beherrschten“, schrieb der Soziologe Max Weber (1864 – 1920).

Die Macht der Ausstrahlung wirft auch ethische Fragen auf, die der normativ entkernte Seminarmarkt geflissentlich ignoriert. Der Besuch eines „werteorientierten“ Coachings, bei dem „Instant-Charisma“ trainiert wird, soll das Selbstbewusstsein heben – nicht zum Grübeln anregen. Wo das strategische Denken dominiert, hat die Ethik keine Chance. Wo die Sorge um die gelungene Außenwirkung den Zweifel besiegt, fällt es leicht, über Leichen zu gehen. Nur weil ein gewisses Strahlen dem Imagegewinn dient, enthebt einen dies allerdings noch lange nicht der Verantwortung für sein Tun.

Echtes Charisma braucht Selbstvergessenheit

Wenn es sich, wie Max Weber schreibt, „um eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche Hingabe“ handelt, die Menschen dazu bringt, vorgeblichen Charismatikern aus der Hand zu fressen, ist Vorsicht geboten. Schlechtes Charisma basiert auf der Lüge. Gutes Charisma entsteht aus dem Mut, anders zu sein. Sich als echte Persönlichkeit zu bewähren. Geist statt Geste hochzuhalten. Sich zu trauen, gegen den Mainstream der Hohlheit aufzubegehren, statt dummdreist ins Smartphone zu grinsen.

Echte Charismatiker drohen in den Scheinwelten der Modere unterzugehen. Weil sie zum Beispiel den Mut haben, sich ab und zu von der Welt zurückzuziehen, sich in Bücher vergraben, eine Antikensammlung besuchen oder einfach mal zu ihrem Lieblingssong für sich hin tanzen. Echtes Charisma braucht Selbstvergessenheit, Muße und Inspiration. Nur ein inspirierter Mensch kann andere inspirieren. Ein Typ, der Inspiriertheit lediglich vorgaukelt, ist nicht besser als ein Sektenführer. Rebekka Reinhard fordert: „Schießen wir die Illusionskünstler auf den Mond. Vertrauen wir lieber den Leisen und Sanften – denen, die von innen heraus strahlen. Quelle: Beilage der Süddeutschen Zeitung „Wohlfühlen“ 2/2019

Von Hans Klumbies