Reaktionäre stemmen sich gegen das Mehrdeutige

„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“: Reaktionäre haben klare Kategorien. Ihre zweigeteilte Welt ist konfliktuell – Elite versus Volk, Nation versus Fremde, wir versus die anderen. Roger de Weck weiß: „Sie stemmen sich gegen das Mehrdeutige, das eine lebendige Gesellschaft prägt.“ In der Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik stimmen viele einst eindeutige Kategorien nicht mehr. Ihre alte Klarheit ist nicht auf der Höhe der neuen Unübersichtlichkeit. Beispielsweise gerät die Arbeitsgesellschaft in immer größere Verlegenheit, den Begriff der Arbeit überhaupt zu erfassen. Der bewegliche Laptop hat die Einteilung in Büroarbeit und Heimarbeit gesprengt. Im Netz verwischt die Zweiteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und die unbezahlte Arbeit, zum Beispiel die Care-Arbeit, die in der Volkswirtschaftslehre nicht als Arbeit vorgesehen war, wurde endlich als maßgebend entdeckt. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Rund 130 Millionen Menschen sind auf Überlebenshilfe angewiesen

Außerdem formieren sich neben den Parteien frische Kräfte, oft mehr Bewegungen als Organisationen. Roger de Weck nennt ein Beispiel: „Fridays for Future hat zu einem ökologischen esprit général vielleicht sogar mehr beigetragen als die Grünen.“ Daneben hat sich in der aktuellen Weltordnung und angesichts des Klimawandels der herkömmliche Begriff es Flüchtlings überlebt. Kriegs-, Katastrophen-, Hungersnot- oder Klimaflüchtlinge fallen nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention.

Sie sind Geflüchtete ohne den Anspruch auf Asyl, weil sie nicht individuell politisch verfolgt werden, sondern vordergründig „unpolitisch“ und kollektiv bedroht sind. Roger de Weck stellt fest: „Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf, Peter Maurer, zählt mehr Gewaltvertriebene denn je seit dem Zweiten Weltkrieg: 70 Millionen an der Zahl.“ Insgesamt sind rund 130 Millionen Menschen auf Überlebenshilfe angewiesen, und rund 70 Prozent der Kampfhandlungen sind nicht klassische Kriege zwischen Staaten, sondern innere Konflikte mit jeweils zwei bis zweiundfünfzig Konfliktparteien.

Nur die liberale Demokratie hält Ambivalenzen aus

Die meisten Menschen, die in die Flucht getrieben werden, gelten nicht als Flüchtlinge. Reaktionäre würden am liebsten die Einteilungen der Vergangenheit verewigen. Roger de Weck fügt hinzu: „Dazu neigen auch viele Demokraten, denn jeder Mensch hat konservative Reflexe und liebgewordene Denkgewohnheiten, die er ungern ablegt. Aber nur die liberale Demokratie bewältigt das Nebeneinander alter Kategorien, die auslaufen, und neuer, die sich herausbilden: Nur sie hält Ambivalenzen aus.“

Dieses politische System hat das Potenzial, laufend – wiewohl langsam – nach zeitgemäßen Einordnungen zu suchen, denn es ist dafür prädestiniert. Der Philosoph Michael Hampe schreibt: „Es könnte sein, das wir uns gegenwärtig nicht in einer Krise der Demokratie befinden, sondern eine Erosion der aufgeklärten Kultur stattgefunden hat, die sich auf die Art und Weise auswirkt, wie Demokratien funktionieren. Wenn das der Fall ist, muss man sich keine Illusionen machen und muss weitere Aufklärungsbewegung anstreben. Es könnte sein, dass der Verlust einer aufgeklärten Kultur gravierender ist als der der Demokratie.“ Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies