Krisen beschleunigen den Wandel. So hat beispielsweise die Finanzkrise die Architektur der Europäischen Union (EU) bereits entscheidend verändert. Dass kein Staat für die Schulden eines anderen haftet, war ein Eckstein des Maastricht-Vertrags, der nach den Worten von Ralf Fücks, dem Vorstand der Heinrich Böll Stiftung, inzwischen zu Staub zerfallen ist. Ergänzend zu den interstaatlichen Rettungsfonds garantiert die Europäische Zentralbank (EZB) die Refinanzierung der überschuldeten südeuropäischen Staaten. Das Modell der Bundesbank gilt nicht mehr. Ralf Fücks prognostiziert: „Eine europäische Bankenaufsicht wird kommen; die Rekapitalisierung angeschlagener Banken erfolgt über den Europäischen Stabilitätsfonds.“ Das sind seiner Meinung nach fast revolutionäre Entwicklungen, die keinem Plan und klarem Konzept der Europäischen Union folgen, sondern durch die normative Kraft der Fakten erzwungen wurden.
Eine Transferunion ohne Eingriffsrechte ist eine Einladung zur Verantwortungslosigkeit
Dass eine gemeinsame Währung eine verstärkte politische Integration erfordert ist für Ralf Fücks zum Allgemeinplatz geworden. Politiker reden inzwischen viel von der Fiskalunion. Was die Einzelnen allerdings darunter verstehen, ist umstritten. Die einen meinen damit einen ständigen Finanzausgleich zwischen finanzstarken und verschuldeten Staaten, die anderen wollen eine Angleichung der Steuerpolitik und Sozialsysteme. Ralf Fücks warnt: „Mit der Budgethoheit der Mitgliedstaaten, dem Königsrecht der Parlamente, wäre es dann nicht mehr weit her. Sie müssten sich strikten Vorgaben und Kontrollen unterwerfen.“
Ralf Fücks vertritt die These, dass eine Transferunion ohne Eingriffsrechte in die Politik der Mitgliedsstaaten einer Einladung zur organisierten Verantwortungslosigkeit gleichkommen würde. Umgekehrt wird es seiner Meinung nach keinen europäischen Finanzminister als Kontrollinstanz über die nationalen Budgets ohne erweiterte Solidarhaftung geben. Ralf Fücks weist auch darauf hin, dass das wirtschaftliche Gefälle innerhalb der Eurozone heute größer ist als vor Ausbruch der Krise. Auch die politischen Auseinandersetzungen und Differenzen haben sich verschärft.
Europa sollte einen dritten Weg zwischen Zentralismus und Kleinstaaterei einschlagen
Ralf Fücks plädiert dafür, dass Europa einen dritten Weg zwischen Zentralismus und Kleinstaaterei einschlagen sollte. Schon die heutige EU mit ihren 27 Staaten ist seiner Meinung nach zu heterogen, um im gleichen Schritt voranzugehen. Ralf Fücks schreibt: „Die Antwort auf dieses Problem heißt differenzierte Integration. Die Währungsunion ist ein prominentes Beispiel für eine Zone vertiefter Zusammenarbeit innerhalb der EU. Auch der Vertrag von Schengen nur eine Teilmenge der Mitgliedsstaaten.“
Statt der fixen Idee nachzujagen, die ökonomischen, politischen und kulturellen Unterschiede in Europa einzuebnen, sollten die Politiker die Europäische Union als Rahmen für vielfältige Netzwerke der Kooperation betrachten. Ein solches System variabler Koalitionen ist laut Ralf Fücks etwas anderes als die Idee eines verfestigten Kerneuropas, das die EU in einen inneren und äußeren Zirkel spalten würde. Ralf Fücks ist fest davon überzeugt, dass die Methode flexibler Zusammenarbeit sowohl eine vertiefte Integration als auch eine Erweiterung der Union ermöglichen würde.
Von Hans Klumbies