Ralf Dahrendorf seziert den Totalitarismus in Europa

Der Totalitarismus fällt für Ralf Dahrendorf aus dem Bild des Forschritts heraus, sowohl von der traditionellen zur rationalen Herrschaft als auch vom Autoritarismus zur Verfassung der Freiheit. Die viel zitierte Definition des Totalitarismus von Carl Friedrich lautet: „Der Totalitarismus ist eine Ideologie, eine typisch von einem Mann geführte Einheitspartei, eine terroristische Polizei, ein Kommunikationsmonopol und eine zentral verwaltete Wirtschaft.“ Beim Begriff des Totalitarismus denkt man sofort an Adolf Hitlers deutschen Nationalsozialismus und Josef Stalins sowjetischen Kommunismus. In beiden Systemen war das Ziel der totalen Kontrolle durch Mobilisierung erkennbar. Autoritäre Regimes gestatten dennoch große Bereiche der Privatheit und der Apathie. Ralf Dahrendorf schreibt: „Demokratie mobilisiert, tut dies aber, um Kontrolle zu dezentralisieren. In totalitären Regimes ist Mobilisierung das Instrument der zentralisierten Kontrolle.“

Die Gründe für die Entstehung des europäischen Totalitarismus

Es ist eine These von Ralf Dahrendorf, dass der europäische Totalitarismus ein charakteristisches Phänomen der Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen war. Er beschreibt die offenbaren Gründe: „Der Erste Weltkrieg hat nicht nur Lenin in Russland an die Macht gebracht, sondern auch zum Vertrag von Versailles und der unvollständigen Demokratie von Weimar geführt. Der Zweite Weltkrieg ist aus den Eroberungsplänen totalitärer Machthaber hervorgegangen.“

Gemäß Ralf Dahrendorf reichen zwar die Wurzeln totalitärer Ideologien bis ins 18. Jahrhundert und weiter zurück, aber politisch virulent wurde dieses Gedankengut erst zwischen den beiden Weltkriegen. Forscher, die die Sozialstruktur totalitärer Regime untersucht haben, fanden heraus, dass der Totalitarismus das Resultat der Ersetzung älterer und gefügterer Sozialstrukturen durch strukturlose Massengesellschaften ist. Leonard Schapiro schrieb: „Der Totalitarismus ist eine neue Form der Diktatur, der aus den Bedingungen der Massendemokratie nach dem Ersten Weltkrieg hervorging.“

Die Zusammensetzung des Totalitarismus

Hannah Arendt dagegen führte den Totalitarismus auf die spezifischen Bedingungen einer atomisierten und individualisierten Masse zurück. Deutschland und Russland waren andererseits in den 1920er Jahren laut Ralf Dahrendorf alles andere als typische moderne Massengesellschaften. Er erklärt: „Der Totalitarismus führte nicht atomisierte moderne Massen, sondern diejenigen in Versuchung, die auf halben Wege zwischen alt und neu stecken geblieben waren, die also das eine verloren hatten, ohne das andere zu finden, und vielleicht aus diesem Grunde auf das falsche Versprechen einer Verbindung der besten beiden Welten hereinfielen.“

Die Zutaten für den Totalitarismus sind für Ralf Dahrendorf eine unvollkommene Modernität, der Verrat der Intellektuellen sowie die Sirenenklänge eines Führers. Statt eines modernen Konfliktes regiert hier die Geborgenheit der Gemeinschaft, kombiniert mit einer klammen Identität zur Unterdrückung der Angst vor der Freiheit sowie einem ausgeprägten Verfolgungswahn zum Schutz vor den verbleibenden Selbstzweifeln.

Von Hans Klumbies