Der Geist hat kein Geschlecht

„Philosophinnen: Eine andere Geschichte des Denkens“ lautet der Titel der neuen Sonderausgabe des Philosophie Magazins. Vorgestellt werden darin weltberühmte und kaum bekannte Denkerinnen wie Hypatia von Alexandrien, Hildegard von Bingen, Émilie du Châtelet, Mary Wollstonecraft, Simone Weil, Harriet Taylor Mill, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Dona Haraway, Judith Butler und viele, viele mehr. Allein an dieser kleinen Auswahl sieht man, dass die Philosophie niemals ein rein männliches Hoheitsgebiet war. Auch nicht in früheren Jahrhunderten. In jeder Epoche gibt es auch herausragende Denkerinnen. „Und zwar so viele und dermaßen interessante, dass sich unweigerlich der Verdacht einstellt, diese seien nicht einfach vergessen, sondern von der Philosophiegeschichte geradezu aktiv verdrängt worden“, spekuliert die Chefredakteurin der Sonderausgabe, Catherine Newmark. Denn seit der Antike haben Frauen über Metaphysik, Ethik, Naturphilosophie und Politik nachgedacht und geschrieben. Der Geist hat kein Geschlecht.

Christine de Pizan gilt als erste Feministin

Und spätestens seit dem 17. Jahrhundert sind die Damen aus der gelehrten Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken: Elisabeth von der Pfalz, Anne Finch Conway oder Émilie du Châtelet genossen Ruhm und Anerkennung und übten nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Philosophie von René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant aus. Unterteilt ist die Sonderausgabe in fünf große Abschnitte. Der erste heißt die „Vergessenen“. Zu ihnen zählen unter anderem Leontion, Hypatia und Heloisa.

In der frühen Neuzeit taucht das sogenannten „gelehrte Frauenzimmer“ auf. Zu ihren herausragenden Vertreterinnen zählte Émilie du Châtelet, die über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügte. Sie schreibt: „Es mag Metaphysiker und Philosophen geben, deren Wissen größer ist als das meine, ich habe sie noch nicht kennengelernt.“ Zu den großartigen Denkerinnen dieser Zeit zählt auch Christine de Pizan. Mit ihrer literarischen Utopie einer weiblichen Gesellschaft gilt sie vielen als erste Feministin.

Die freie Frau wird erst geboren

Im 18. Jahrhundert politisieren sich die Denkerinnen und treten für umfassende Frauenrechte ein. Gegen das Vorrecht der Männer steigt Mary Wollstonecraft auf die Barrikaden. Ihr Leben und ihr Werk waren unbedingt und radikal. Scharf kritisiert sie, dass das revolutionäre Ideal der Gleichheit vor den Frauen haltgemacht hat und fordert den Sturz auch der Tyrannei des Patriarchats. Eine Mitstreiterin ist die Engländerin Marriet Taylor Mill, die gegen die Unterdrückung der Frau in all ihren Facetten und historischen Formen anschreibt.

Der Feminismus als intellektuelles Motiv findet sich zu allen Zeiten. Zum eigenen philosophischen Teilgebiet wird das Denken der Differenz der Geschlechter erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Simone de Beauvoir schreibt in ihrem weltberühmten Buch „Das andere Geschlecht“: „Die freie Frau wird erst geboren.“ Weiter heißt es in ihrem Werk: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.“ Es lohnt sich also, diese vielschichtigen Denkerinnen neu zu entdecken. Einige von ihnen wird man sicherlich nicht wieder so leicht vergessen.

Von Hans Klumbies