Mit dem Neinsagen fängt das Denken an

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 04/2023 erforscht diesmal die Kraft des Neinsagens. Denn das Nein ist für Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler der Ursprung jedes Aufbegehrens, individuell und auch politisch: „Ja, eine solche Kraft hat das Nein, dass es oft sogar den überrascht, der es äußert.“ Dabei herrscht das vage Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt und so bereitet das Nein den Weg für einen Neuanfang. Wer mutig nein sagt, widersetzt sich äußeren Ansprüchen, um nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben. Doch ist die Verweigerung immer auch in Gefahr, in Narzissmus, Resignation, gar Depressionen abzugleiten. Dennoch gilt: Das Nein hat das Ja, so scheint es, in vielen Bereichen als Grundhaltung abgelöst. Für Denker wie Theodor W. Adorno oder Donatella Di Cesare fängt mit dem Neinsagen das Denken überhaupt erst an.

Die Menschheit behandelt die Erde wie einen kosmischen Cateringservice

Die Verbrennung fossiler Rohstoffe ist für die Zuspitzung der Klimakrise maßgeblich verantwortlich. Peter Sloterdijk, einer der bedeutendsten Denker der Gegenwart, kennt die Gründe der Pyromanie der Menschheit. Er wirft er vor, die gute alte Erde so zu behandeln, als wäre sie ein kosmischer Cateringservice für postmoderne Partys und dekadente Wagenrennen. Für die Klebeaktionen der „Letzten Generation“ zeigt er jedoch Verständnis: „Ich wäre eher beunruhigt, wenn so etwas nicht geschehen würde. Das würde nämlich beweisen, dass die gesamte Jugend sich von Bildern des amüsanten Lebens hätte verführen lassen. Das würde mir viel mehr Sorgen machen.“

Die Politikerin Sahra Wagenknecht und die Schriftstellerin Julia Zeh diskutieren über die Versäumnisse linker Politik, echte und künstliche Gegensätze und den richtigen Umgang mit rechts. Für Sahra Wagenknecht geht es beim „links sein“ um die klassischen Themen: sozialen Gerechtigkeit und Frieden. Julia Zeh sieht ihr Hauptanliegen bei der sozialen Gerechtigkeit. Man könnte es auch als Sicherheit in der Daseinsfrage beschreiben. Alle Menschen müssen immer die Möglichkeit haben, ein sozial sicheres Leben zu führen.

Elias Canetti geht dem Zusammenhang zwischen Masse und Macht auf den Grund

Der Streit ist Alltag. Doch warum streiten Menschen eigentlich? Für Arthur Schopenhauer tun sie dies aus Eitelkeit: „Sie will nicht haben, dass was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe.“ Er spielt damit auf die Eigentümlichkeit an, dass Menschen lieben auf ihrem Recht beharren, als einen Irrtum einzugestehen. Dabei weiß man eigentlich oft selbst, dass man sich irrt. Doch die „natürliche Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts“ ist Arthur Schopenhauer zufolge der Grund, warum man sich lieber weitert streitet.

Auf dem Thron der Klassiker hat diesmal Elias Canetti Platz genommen. Wenn man heute über Macht spricht, geht es oft um den Einfluss von Sprache, Normen und Strukturen. Elias Canetti dagegen vertrat hingegen ein vielmehr körperliches Verständnis. Unter dem Eindruck des erstarkenden Antisemitismus und blutiger Massenproteste beginnt Canetti den 1920er-Jahren, dem Zusammenhang zwischen Masse und Macht auf den Grund zu gehen. Das Relais zwischen beiden erkennt er in der menschlichen Angst vor dem Tod. Die Größenfantasien der Machthaber und der Drang der Masse, immer weiter zu wachsen, finden darin ihren gemeinsamen Ursprung.

Von Hans Klumbies