Den Kern einer gerechten Gesellschaft bildet der „Schleier des Nichtwissens“

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 04/2019 lautet: „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ Viele politische Großereignisse der letzten Jahre hängen mit dieser Frage zusammen: die Proteste infolge der Finanzkrise, der Aufstieg des Rechtspopulismus, der Brexit, die Demonstrationen der sogenannten „Gelbwesten“ in Frankreich, die Schülerproteste für den Kampf gegen den Klimawandel sowie die jüngsten Debatten um Enteignungen. Dabei gibt es unübersehbare Gemeinsamkeiten: Überall geht es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Der Verteilung von Geld, Eigentum, Macht, Anerkennung und ökologischer Ressourcen. Der US-amerikanische Philosoph John Rawls hat die wirkmächtigste Theorie der Gerechtigkeit des 20. Jahrhunderts entworfen. Der „Schleier des Nichtwissens“ bildete für ihn den Kern einer gerechten Gesellschaft. Mi seinem „Differenzprinzip“ legitimierte er soziale Ungleichheiten unter bestimmten Bedingungen. Zentral bleibt bei seinen Überlegungen für John Rawls folgendes: Individuelle Freiheiten und Rechte dürfen nicht auf die Gesamtheit eines hypothetischen kollektiven Wohlergehens gegründet werden.

Das Begehren richtet sich immer auf das Unverfügbare

Der „Schleier des Nichtwissens“ gewährleistet laut John Rawls, dass niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. In diesem Gedankenexperiment tut man so, als wüsste man nichts über seine Stellung in der Gesellschaft. Beim Entwurf einer Gesellschaft werden die Menschen dann diejenigen Prinzipien auswählen, die das Schicksal derer schützen, die es weniger gut getroffen haben, denn es könnte ja auch das eigene Schicksal sein.

Zum Gespräch hat das Philosophie Magazin diesmal den Soziologen Hartmut Rosa, den Meister der Analyse moderner Dynamiken der Entfremdung, eingeladen. In seinem neuen Buch „Unverfügbarkeit“ schreibt Hartmut Rosa, dass Lebendigkeit nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren entsteht. Das menschliche Begehren richtet sich seiner Meinung nach immer auf das Unverfügbare, auf das, was man nicht völlig unter Kontrolle kriegt: „Eine vollständig verfügbar gemachte Welt wäre folglich eine, in der wir nichts mehr begehren würden.“

Jürgen Habermas erlangt mit seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ Weltruhm

Die Rubrik „Der Klassiker“ ist diesmal Jürgen Habermas gewidmet, der heute als der wirkmächtigste Philosoph deutscher Sprache gilt. Zu intellektuellem Weltruhm gelangte er spätestens mit seiner 1981 erschienenen „Theorie des kommunikativen Handelns“. Diese Theorie besagt, dass Menschen nur dann ernsthaft argumentieren, ja miteinander streiten können, wenn sie zugleich unterstellen, das Gespräch, das sie führen, werde vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments regiert.

Als Buch des Monats hat das Philosophie Magazin diesmal „Klare, lichte Zukunft“ von Paul Mason auserkoren. Der Autor entwirft darin Strategien gegen den Rechtsruck, die Renationalisierung und eine weltweit grassierende antihumanistische Stimmung. Wer in dieser dunklen und schrecklichen Welt etwas ändern möchte, für den kann es keine Gespräche mit den „Rechten“ geben. Man kann sie nur bekämpfen, weil sie das, was die Humanität ausmacht, vernichten wollen: nämlich wissenschaftlich fundierte Rationalität, die Gleichheit aller Menschen und transparente Rechts- und Staatsinstitutionen.

Von Hans Klumbies