Bei der Gewohnheit ersetzt die Routine die Verantwortung

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazin 02/2020 geht der Frage nach, warum es so schwer ist, sich zu ändern. Gewohnheiten, Ängste und Orientierungslosigkeit: Vielfältig sind die Gründe dafür, warum viele Menschen im Alten verharren, selbst wenn es mit Leid verbunden ist. Selbst die extremsten Handlungen oder Ereignisse können sehr schnell zu so banalen Gewohnheiten wie dem Kaffee nach dem Essen werden. Wie die Geschichte zeigt, kann man sich leider an alles gewöhnen, auch daran, ein Kind zu schlagen oder Unschuldige zu erschießen. Wie man sieht, hat die Gewohnheit erhebliche moralische Folgen oder amoralische, um genau zu sein. Sie betäubt den Willen eines Menschen. Ihre mechanische Wiederholung gibt der Gewohnheit ein solches Gewicht, dass sie unverrückbar scheint. Wenn das Bewusstsein abdankt, wenn man schulterzuckend bekennt: „Ich kann nichts dagegen tun!“, dann erweist sich die Gewohnheit als bewährtes Alibi. Die Routine ersetzt die Verantwortung.

Durch Übung und Disziplin kann man sich von einer Gewohnheit befreien

Die Gewohnheit führt zur Gleichgültigkeit, Ermüdung und Langeweile, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1817) zu der schonungslosen Bemerkung veranlasste, es sei „die Gewohnheit des Lebens, welche den Tod herbeiführt oder, wenn ganz abstrakt, der Tod selbst“. Um sich von einer Gewohnheit zu befreien, muss man sie durch etwas ersetzen, das ganz ähnlich und mindestens genauso machtvoll ist: durch die Übung und die Disziplin. Diese These vertritt der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“.

Der Philosoph Pierre Zaoui vertritt dagegen folgende These: „Meiner Ansicht nach ist das, was man sich in Wahrheit wünscht, nicht, ein anderer zu werden, sondern eher, auf intensivere Weise man selbst zu sein.“ Damit es eine wirkliche Veränderung geben kann, muss man, glaubt Pierre Zaoui den Mahnungen zu fortwährender Veränderung widerstehen – vor allem darf man sich nicht ändern wollen! Zunächst geht es darum zu verstehen, was das eigene Selbst ausmacht. Dieser Ansatz wird in der Philosophie an erster Stelle von Baruch de Spinoza vertreten.

Das Denken beginnt mit der Melancholie

In der Rubrik „Gespräch“ hat das Philosophie Magazin diesmal ein ausführliches Interview mit dem Philosophen Simon Critchley geführt, für den das Denken nicht mit dem Staunen, sondern mit der Melancholie beginnt. Der Akt des Denkens geht seiner Meinung nach aus einer Art Traurigkeit hervor. Dabei handelt es sich allerdings um keine lähmende Traurigkeit, sondern um eine distanzierte, entfremdete Stimmung. Die sozialen Medien wie beispielsweise Dating-Apps sind für Simon Critchley auf jeden Fall ein existenzielle Bedrohung und haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben. Die Leute haben den Eindruck, alles sei verfügbar, alles erreichbar, doch zugleich herrscht ein totaler Mangel an Verbindung.

Zum Klassiker hat das Philosophie Magazin diesmal Sigmund Freud erkoren und sein Verhältnis zur Kultur analysiert. Der Begründer der Psychoanalyse hatte in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ mit einem Schlag die ganzen Leistungen der Kultur und der Zivilisation zu einem fadenscheinigen Gebilde degradiert, das sich jederzeit auflösen kann. „Die Menschen haben es jetzt mit der Beherrschung der Natur so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten“, heißt es im letzten Absatz dieser Schrift. „Sie wissen das. Daher ein Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks und ihrer Angststimmung.“

Von Hans Klumbies