Die Philosophin Barbara Bleich gibt zu: „Nicht alle stören sich am selben.“ Wobei gewisse Störelemente wohl ungeteilt alle zur Weißglut bringen. Die Fahrleitungsstörung zum Beispiel, die uns alle zum Ausharren im stillstehenden Zug verdammt; die Warteschlange, die stagniert; viel zu langsames W-Lan oder – besonders unbeliebt – die surrende Stechmücke bei Nacht. Eine Störung wird umso ätzender, als sie nicht nachlässt, sondern immer wieder belästigt, plagt und triezt, bis der Geduldfaden reißt und man dem Quälgeist mit Maximaleinsatz beizukommen versucht. Wer allerdings an der Wahrheit interessiert ist, wird sich stets von Neuem aufstören lassen, ja aufstören lassen müssen, weil die inneren Fragen nicht zur Ruhe kommen. Die Philosophie ist, so könne man sagen, aus dem Willen zur Störung geboren – eine Störung freilich, die nicht bei der Dekonstruktion stehen bleibt, sondern stets die Konstruktion im Blick hat: den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft und die Erkenntnis von Wahrheit.
Sand im Getriebe verweist auf das Störungspotential von Protest
Der Philosoph Geert Keil beschreibt in seinem Beitrag den Störfall Skeptizismus. Der erkenntnistheoretische Skeptiker ist der Auffassung, dass Menschen als fehlbare Wesen niemals sicher ausschließen können, dass kein verborgener Irrtum oder keine Täuschung vorliegt, und dass sie aus diesem Grund auch kein Wissen besitzen – nicht wenig Wissen, sondern überhaupt kein. Geert Keil nennt diese Auffassung „Wissensskepsis“. Ob man in einer bestimmten Lage nichts wissen kann, hängt klarerweise davon ab, was Wissen ist. Skeptiker glauben fälschlich, dass Wissen wahrheitsgarantierende Rechtfertigungen erfordere.
Der Sozialphilosoph und Anthropologe Robin Celikates schreibt: „Sand im Getriebe – kaum eine Metapher passt so gut zur Frage nach der Bedeutung von Protest und Ungehorsam für die Demokratie.“ Sand im Getriebe – das verweist auf das Störungspotential von Protest. Protest, der stört, wird in unseren Gesellschaften zunehmend diffamiert und in die Nähe von Terrorismus und Organisierter Kriminalität gerückt. Demokratie ohne Protest, und damit ohne Störung der Ordnung, kann es nicht geben, zumindest nicht auf Dauer.
Die neue Schweigespirale hat ein enormes Spaltungspotenzial
Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner sagt. „Wer oder was stört, ist oft eine Frage der Perspektive. Und eine Frage von Macht und Klasse.“ Ihr Vortrag versteht sich als Einladung zum Perspektivenwechsel. Ihre Conclusio als Klarstellung einer immer mehr verrohenden Gesellschaft, in der Kategorisierungen von Menschen entlang von Verwertungslogiken im Sinnes des „Humankapitals“ und Ausgrenzung immer mehr Raum greifen. Elisabeth Lechner fordert: „Lassen Sie sich stören, trotzen Sie der Gleichgültigkeit und bleiben Sie in Simone Weis Sinne aufmerksam und zugewandt.“
Die Zeiten eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus, der Freude und des Stolzes über die lang erkämpfen freiheitlichen Errungenschaften sind für die Philosophin Ulrike Ackermann längst vorbei. Oftmals ist heutzutage zu beobachten, dass bereits vor einer potenziellen Konfrontation oder Abneigung die eigene Meinung zurückhalten wird, um Missfallenen zu vermeiden. Das heißt also: lieber schweigen, um zu gefallen, um opportun zu sein, als aufzufallen, an den Rand gedrängt oder gar geächtet zu werden. Diese neue Schweigespirale funktioniert deutlich drastischer all alles, was bis bisher kannten. Sie greift radikal in das gesellschaftliche Gefüge ein und hat ein enormes Spaltungspotenzial.
Sand im Getriebe
Eine Philosophie der Störung
Philosophicum Lech Band 27
Konrad Paul Liessmann, Barbara Bleisch (Hg.)
Verlag: Zsolnay
Broschierte Ausgabe: 254 Seiten, Auflage: 2025
ISBN: 978-3-552-07546-7, 26,00 Euro
Von Hans Klumbies