Im frühen 21. Jahrhundert war die Zukunft ausgesperrt

Was würde sich ein Historiker, der im 22. Jahrhundert fragen, wenn er über das frühe 21. Jahrhundert forscht? Er würde wahrscheinlich zwei Dinge nicht verstehen. Philipp Blom spekuliert: „Einerseits würde er sehen, dass die beginnende Erderwärmung längst wissenschaftlich erfasst war und beobachtet wurde, dass die damaligen Gesellschaften aber nur sehr langsam und zögerlich auf diese enorme Transformation reagieren.“ Anderseits würde er sehen, dass die Digitalisierung bereits angefangen hatte, tief in wirtschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen und politische Machtgefüge einzugreifen und sie neu zu formen, aber dass auch diese Entwicklung nur kleinteilige und häufig rein symbolische Reaktionen nach sich zog. In den damaligen Gesellschaften, so könnte er schließen, drehte sich aus schwer erklärlichen Gründen alles um die Verwaltung von Erwartungshaltungen und um die Verteidigung von Privilegien. Die Zukunft war im Grunde ausgesperrt worden. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

Zukunft ist Veränderung

Warum wird sich der Historiker im 22. Jahrhundert fragen, hat man damals so starr an einem wirtschaftlichen Modell festgehalten, das gefährlich und überholt war, warum gab es keine gigantischen Demonstrationen und bewaffnete Aufstände, um eine rasche und entschlossen Wende einzuleiten? Warum haben die Menschen damals ihren eigenen Wissenschaftlern nicht geglaubt? Im frühen 21. Jahrhundert wäre eine Weichenstellung noch möglich gewesen. Haben die Menschen denn nicht gewusst, dass 16 der 17 heißesten je gemessenen Jahre zwischen 2000 und 2017 lagen?

Statt eine Antwort auf diese Fragen zu geben, zeichnet Philipp Blom ein Stimmungsbild: „Die reichen, demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft.“ Denn Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Umweltgifte, massenhaftes Artensterben, Überbevölkerung, Islamisierung und Bürgerkriege.

Die Projektionen der Zukunft der Menschheit sind verzweifelt

Die Zukunft sollte also vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollten nur, dass die Gegenwart nie endet. Politik hat früher in Visionen gesprochen, und diese Visionen waren mörderisch. Heute hat man realistischere Ansprüche. Politik ist Sachverwaltung, Management der Erwartungen, Customer Service. Nur Wohlfühl-Gurus, Typen im Silicon Valley und Sektenführer sprechen noch von Utopie, von einer besseren Welt, die vor uns liegt, in der die Probleme der Gegenwart nur noch Erinnerung sind, ansonsten sind die Projektionen der Zukunft der Menschheit allesamt trostlos bis verzweifelt.

Kaum jemand in der reichen Welt glaubt noch ernsthaft, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird, dass harte Arbeit belohnt wird, dass Politiker im Interesse ihrer Wähler handeln wollen oder können, dass die Menschheit ein besseres Morgen erwartet. Also lieber keine Veränderung. So wird es zum höchsten Ziel, den Status quo zu erhalten. Die Veränderung ist allerdings da und ist gnadenlos. Sie verdrängt Millionen durch Dürre und Überschwemmungen und treibt sie in die Flucht, sie verdrängt in reichen Ländern unerbittlich mehr und mehr Menschen aus ihren Jobs – mit einem Wort sich schafft überall angstverbreitende Unsicherheiten. Quelle: „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies