Die Demokratie ist kein Naturzustand, sie ist keine historische Notwendigkeit, ganz im Gegenteil, sie ist in höchsten Maße unnatürlich und zufällig. Sie zu erhalten ist harte Arbeit. Phillip Blom blickt in die Vergangenheit: „Liberale Demokratien mit allgemeinem, freiem und gleichem Wahlrecht haben ihren ersten Auftritt im Rampenlicht der Geschichte erst in der Nachkriegszeit.“ In Frankreich beispielsweise bekamen Frauen das Wahlrecht 1947, in der Schweiz 1971. In Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien kam die Demokratie spät, im östlichen Europa erst nach 1989, in Russland vielleicht nie wirklich; ältere Afroamerikaner in den USA und Aborigines in Australien können sich noch persönlich an die Zeit erinnern, bevor sie volle Bürgerrechte hatten. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Liberale Gesellschaften sind nicht Ziel und Endpunkt der Geschichte
Es ist der alte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die Sicht auf diese Tatsache verstellt, und hinter ihm die Bibel. Der Gedanke des Fortschritts hat sich eingenistet in Gehirnen und historischen Werken, der unaufhaltsame Weg der Revolutionen zu voller Befreiung der Menschen. Man könnte diese Geschichte allerdings auch ganz anders erzählen, als Narrativ einer Spezies zum Beispiel, die sich und ihre Organisationsformen den Umständen anpassen kann, die in einer Zeit der steigenden, vom Erdöl angetriebenen Wirtschaftsleistung so wohlhabend wurde, dass sie die Märkte zu zentralen Metapher hob und sich eine stark regelbasierte, demokratische Struktur gab.
Liberale Gesellschaften sind nicht Ziel und Endpunkt der Geschichte. Sie existieren noch nicht sehr lange und es gibt nur sehr wenige von ihnen. In den letzten Jahren ist ihre Zahl sogar gesunken. Auch in den reichen, hochentwickelten Ländern haben sie als Gesellschaftsmodell dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren. Gleichzeitig wird die Koalition derer, die eine autoritäre Alternative unterstützen, immer größer. Vor allem für Menschen, welche die Alternative nicht am eigenen Leib erfahren haben, verliert die Demokratie dramatisch an Glaubwürdigkeit.
Die Suche nach der Wahrheit ist niemals abgeschlossen
Und doch ist inzwischen für viele Menschen in reichen Ländern die Demokratie mit ihren Institutionen und ihrer öffentlichen Kultur so normal wie das Wasser aus dem Wasserhahn. Sie haben noch nie in einer anderen Gesellschaftsform gelebt und können sich kaum vorstellen, wie das wäre, daher bleibt es eine blasse und abstrakte Idee. Gelebte Normalität kann eine intellektuelle Falle sein, wenn man instinktiv anzunehmen beginnt, dass die Dinge so sind, weil sie so sein müssen, und nicht, weil sie zufällig so geworden sind und auch wieder anders werden können.
Heute gehen viele Menschen selbstverständlich davon aus, dass Denker und Gesellschaften anderen Kulturen und historischer Perioden nur teilweise rational oder aufgeklärt waren, dass ihr Denken Etappen auf einer Suche nach der Wahrheit darstellt, die in der Gegenwart erst abgeschlossen wurde. Philipp Blom meint: „Vielleicht ist es analytisch fruchtbarer, das Gegenteil anzunehmen. Was, wenn viele Denker der Geschichte, die Demokratie für unmöglich, Gleichheit für absurd und Freiheit für eine Illusion hielten – was, wenn sie Recht gehabt hätten?“ Quelle: „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom
Von Hans Klumbies