Kollektive können unter Druck geraten

Ist das Ideal des kosmopolitischen Zusammenlebens an der menschlichen Natur gescheitert? Oder ist es an der Realität der Globalisierung und der defensiven Reaktion darauf zerbrochen? Hat die Aufklärung versagt? Die Antwort kann nicht lauten, à la Jean-Jacques Rousseau in die Wälder zu fliehen und eine Republik der Tugend zu gründen. Dort könnte ein weiser Gesetzgeber notfalls mit Gewalt das Gute verwirklichen. Oder das, was er und die Seinen als das Gute ansehen. Philipp Blom stellt noch eine weitere Frage: „Ist es unrealistisch und dumm, angesichts von globaler Migration, sozialen Netzwerken und der wütenden Identitätspolitik auf ausreichend viel Gemeinsamkeit in Vielfalt zu hoffen?“ Kollektive können sowohl von innen als auch von außen unter Druck geraten. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

Der Universalismus scheint tot zu sein

Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Angst und Aggression wachsen. Identitäten verengen sich. Längst unwahr gewordene Geschichten über historische Kämpfe und Überlegenheit gewinnen wieder Oberwasser. Gemäß dieser Logik identifiziert man Feinde, sucht Sündenböcke, schlachtet Opfer. Irgendwen gibt es immer, auf den auch die Elendsten noch hinabsehen und -treten können. Der Universalismus wird weltweit für tot erklärt. Man engt Menschenrechte ein oder setzt sie ganz außer Kraft.

Aus der Perspektive der Aufklärung lässt sich das Rasen der globalisierten, flüssig gewordenen Moderne nicht verstehen. Denn die Aufklärer konnten nicht über eine graduelle Entwicklung ihrer Gesellschaften hinausdenken. Heißt das, dass die Aufklärung gescheitert ist? Oder ist das Gegenteil der Fall? Möglicherweise ist die Aufklärung im Lauf ihrer Geschichte hinter ihren eigenen Anspruch zurückgefallen. Gerade weil sie nicht weit genug dachte. Allerdings muss man ihr zugutehalten, dass das Ausmaß der Transformation durch die industrielle Revolution nicht absehbar war.

Universelle Menschenrechte gehören zur Aufklärung

Der Grundgedanke der Aufklärung war oppositionell. Er war darauf gerichtet, ein neues Menschenbild konkret in Kultur, Wissenschaft und Politik zu übersetzen. Dazu musste man universelle Menschenrechte und rationales Denken in die Debatte einführen. Es gibt allerdings eine Achillesferse des aufgeklärten Denkens. Nämlich das Missverständnis, menschliche Gesellschaften würden sich linear entwickeln, weil Menschen Vernunftwesen sind. Diese Idee scheiterte daran, dass die Antriebskräfte des Homo sapiens nicht rational sind.

Ein wesentlicher Teil des aufgeklärten Menschenbildes scheint also das Produkt eines historischen Überschwangs zu sein. Philipp Blom ergänzt: „Gleichzeitig entsprach die Idee des rationalen Wesens Mensch der christlichen Vorstellung von der Seele und ihrem Verhältnis zum Körper.“ Der Dualismus zwischen Geist und Materie eignete sich hervorragend zu einer Transfusion alter Inhalte in eine neue Gestalt. Der Mensch als Vernunftwesen im Kampf mit der irrationalen Körperlichkeit ließ sich leicht in bestehende Denkgewohnheiten integrieren. Quelle: „Das große Welttheater“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies

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