Peter-André Alt erzählt in seinem neuen Buch „Sigmund Freud“ von der Bewegung der Psychoanalyse, ihrem Siegeszug und ihren Niederlagen. Er porträtiert Sigmund Freud als selbstkritischen Dogmatiker und wissenschaftlichen Eroberer. Der Begründer der Psychoanalyse war auch selbst ein Zerrissener, der die Nöte der Seele, von denen seine neue Therapie die neurotischen Menschen befreien sollte, aus eigener persönlicher Erfahrung kannte. Der Nervenarzt Sigmund Freud arbeitete in Wien an seinen wegeweisenden Theorien zu Sexualität und Neurose, Traum und Unbewusstem, Familie und Gesellschaft, Märchen und Mythos. In seinen Behandlungsräumen in der Berggasse 19 vollzog sich die Erfindung einer neuen Lehre vom Menschen, die das Verständnis des Seelenlebens umfassend und eingreifend veränderte. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Anfangs fußte die Psychoanalyse auf der Selbstanalyse Sigmund Freuds
Peter-André Alt schreibt: „In den langen Tagen, die Freud als Arzt neben der Couch verbrachte, wuchs das Wissen über das Unbewusste – über Traum und Sexualität, die Kulturleistungen der Sublimierung, die krankheitsbildende Macht der Verdrängung und die Ursprünge des moralischen Kontrollsystems, über Angst und Wahn, Neurosen und Ich-Spaltung zwischen Ratio und Libido, zwischen Lebens- und Todestrieb.“ Zunächst war die Psychoanalyse eine sehr einsame Geschichte, die auf der Selbstanalyse Sigmund Freuds fußte.
Sigmund Freud begab sich in die unvermessenen Gefilde seines eigenen Seelenlebens, um daraus neue Einsichten über kindlichen Vaterhass und erotisch geprägte Mutterliebe, über die infantile Sexualität und die feste Verbindung zwischen Angst und Libido zu gewinnen. Die Netze der neuen Theorie waren aus dem intimsten persönlichen Erfahrungsmaterial ihres Begründers gewebt. Für Peter-André Alt steht außer Frage, dass Sigmund Freuds Lehre heute in einigen Punkten historisch überholt oder zumindest von der Geschichte konditioniert ist.
Die Psychoanalyse ist die zugleich dunkelste und hellsichtigste Wissenschaft vom Menschen
Wer in der Gegenwart von der Moderne spricht, redet zwangsläufig von der Psychoanalyse. Denn sämtliche Formen der biographischen Erzählung sind in der Moderne von der Psychoanalyse beherrscht. Die Erkenntnis der frühkindlichen Prägungen, die Einsicht in das Spiel familiärer Einflüsse, die Theorie neurotischer Ängste, die Reflexion über das Verhältnis von Trieb und Kulturleistung bestimmen die Muster, in denen Lebensgeschichten dargestellt werden. Das Material, das Sigmund Freud zur folgenreichsten Theorie des modernen Menschen formte, stützt sich nicht auf Laborpräparate, Experimente oder Texte, sondern auf die Leidensgeschichten, die er über Jahre hinweg erfasst hat.
Sigmund Freuds einzigartige Leistung bestand laut Peter-André Alt darin, dass er aus persönlicher Erfahrung allgemeingültige Einsichten, aus reicher Lektüre neue Entdeckungen gewann. Er entwickelte ein hochgradig originelles System, das unabhängige Urteile über Trieb und Geist, Gesellschaft und Staat, Religion und Kultur ermöglichte. Bis heute ist der Streit der Meinungen über die Psychoanalyse virulent. Die Psychoanalyse wird allerdings weiter existieren, als herausforderndes Vermächtnis der zugleich dunkelsten und hellsichtigsten Wissenschaft vom Menschen, die jemals entworfen wurde.
Sigmund Freud
Der Arzt der Moderne
Peter-André Alt
Verlag: C. H. Beck
Gebundene Ausgabe: 1036 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-406-69688-6, 34,95 Euro
Von Hans Klumbies