Das Wirtschaftswachstum hat sich zu einer Ersatzreligion entwickelt

„Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze!“ „Ohne Wachstum keine soziale Sicherheit!“ sind die beiden Mantras der neuen Religion. Diese Einsicht ist mittlerweile so selbstverständlich, dass niemand auch nur wagt, sie anzuzweifeln. Trotz wirtschaftlichem Wachstum werden allerdings immer mehr Arbeitsplätze und soziale Sicherungen abgebaut. Paul Verhaeghe erläutert: „In Westeuropa nimmt die Arbeitslosigkeit weiter zu, genau wie die Versuche beinahe aller Regierungen, die Statistiken in einem deutlich positiverem Licht zu präsentieren. Das erklärt, warum die Medien hin und wieder über die „offizielle Arbeitslosenquote“ berichten, und dann wieder über die „tatsächliche Arbeitslosigkeit“. Laut Robert Gordon, einem amerikanischen Arbeitsmarktexperten, werden in den nächsten zehn Jahren 45 Prozent der Arbeitsplätze in der Mittelschicht aufgrund von Outsourcing und Automation verloren gehen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Menschen sind entweder Konsumenten oder ein Kostenfaktor

Robert Gordon verschweig allerdings, dass diese Zunahme der Arbeitslosen für die kapitalistische Wirtschaftsform ein Fortschritt ist. Denn Menschen sind entweder Konsumenten oder ein Rohstoff (human resources), also ein Kostenfaktor. Als Kostenfaktor müssen sie berechnet und eingespart werden. Deswegen verlagert man Arbeitsplätze in Länder, in denen Kinder- und Sklavenarbeit noch möglich sind, und ersetzt Menschen durch Maschinen. Bildung und Gesundheit macht man am besten so teuer wie möglich, oder noch besser, man wandelt sie gleich in gewinnbringende Unternehmen um.

Inzwischen werden sogar Gefängnisse und Seniorenheime zu einer äußerst interessanten Investition: Sie sind immer voll belegt; wer dort verweilt, hat wenig Mitspracherecht, und man braucht sich nicht den Kopf über Kundenbindung zerbrechen, denn sie kommen freiwillig ja doch nicht wieder. Aber auch hier wird am Kostenfaktor „Personal“ gespart. Auch Outsourcing ist inzwischen eine Option. Es ist zum Beispiel wirtschaftlicher rentabler, ein Seniorenheim für deutsche Senioren in Osteuropa zu errichten.

Das Wirtschaftswachstum dient dem Schuldenabbau

Das Mantra, „ohne Wachstum keine Arbeitsplätze“, stimmt also nicht. Unsere heutige Ökonomie wächst weiter, obwohl sie immer weniger Arbeitnehmer braucht. Auch das zweite Mantra, „ohne Wachstum keine soziale Sicherheit“, ist falsch. Denn trotz Wirtschaftswachstum und Gewinne an den Börsen wird die soziale Sicherheit abgebaut. Das alles ist kein Zufall. Paul Verhaeghe erklärt: „Diese Wirtschaftsform zieht aus der zunehmenden Unsicherheit und einem instabilen Arbeitsmarkt nur Vorteile.“

Das heutige Wirtschaftswachstum dient also in keiner Weise der Verbesserung des Arbeitsmarkts und erst recht nicht dem Erhalt der sozialen Sicherheit. Wozu dient es denn? Paul Verhaeghe kennt die ziemlich absurde Antwort: „Die Ökonomie muss wachsen, damit die Schulden abgezahlt werden können, die wir gemacht haben, um Wachstum zu erzielen …“ Im heutigen ökonomischen System basiert Wachstum nicht mehr auf der Zunahme „echter“ Produktion. Denn echtes Wachstum beruht auf Innovation, und Innovation beruht meist auf grundlegenden, von wissenschaftlichen Institutionen erstellten Studien. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies